kurt lanthaler
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Stand 04.09.2012

Annotate
aus der Schreibstube
Kürzestgeschichten
»Annotate dient der komfortablen und effizienten, semi-automatischen Annotation von Korpusdaten.
Es unterstützt die Erstellung kontextfreier Strukturen und erlaubt dabei zusätzlich kreuzende Kanten. Die terminalen Knoten, nichtterminalen Knoten und die Kanten werden etikettiert. Die Anzahl und Art der Kategorien ist frei definierbar. Annotierte Korpora werden in einer relationalen Datenbank abgelegt. Annotate ist mit einem Interface zur Interaktion mit externen Parsern ausgestattet.«


Was hiervon einmal Buch werden sollte, verschwände. Dorthin.



Es ist ein ausgemachter Skandal!

stand da, fein säuberlich, Buchstabe um Buchstabe liebevoll auf den Zettel einer ortsansässigen Bierbrauerei gemalt.
»Es ist ein Skandal! Sie sind ja NIE da! Wenn man Sie braucht. gez. Ihr griechischer Freund.«

Nun hatte ich keinen griechischen Freund – was in Zeiten wie diesen weder Schad noch Schand ist, und von Nachteil nicht sein mag – nie gehabt, so weit mir erinnerlich. Und außerdem wußte ich nichts von den Griechen. Außer, daß sie manchmal Pferde vorbei bringen. Ich hatte mich aber bereits umgesehen: nichts Pferdeartiges weit und breit. Nur dieser Zettel auf der Eingangstür zu meiner Firma Fa. Kleines Büro für alles - Immer für Sie da.
Tatsächlich war ich einige Tage nicht da gewesen. Und an den anderen hatte ich jegliches Eindringen von äußerer Wirklichkeit in meine innere Wirklichkeit dadurch zu verhindern gewußt, daß ich auf Post, Telefon oder elektrische Briefe, so sie denn eingingen – knappe Handvoll in 10 Tagen, alles in allem, die Informationsblätter eines in der Nachbarschaft gelegenen Tierfuttergroßhandels mit eingerechnet – eben nicht einging. Daß aber jemand an die Tür meiner Firma Fa. Kleines Büro für alles - Immer für Sie da geklopft haben sollte: war mir entgangen. Und ich ihm. Und er mir.

Ich entsicherte also zuallererst die Schließmechanismen meines Firmenzentralzuganges, setzte mich an den Schreibtisch der obersten Führungskraft, beauftrage meinen Assistenten, also mich, flugs mit der Niederschrift eines Diktates und bat ihn, den für Außenbeziehungen und PR zuständigen Abteilungsleiter, also mich, mit der Anbringung des diktierten Textes an die Außenseite des Hauptzuganges zu meiner Firma Fa. Kleines Büro für alles - Immer für Sie da zu beauftragen, und zwar expliziter direkt unter der dort sich hinterlassen gefunden habenden Nachricht des griechischen Unbekannten.
»Lieber griechischer Freund. Jetzt bin ich aber da!«, stand dann da. Darauf geschah erst einmal gar nichts. Tagelang.
Gar nichts stimmt nicht ganz: Der für mich zuständige Finanzminister Schäuble war unterdessen nach Griechenland gefahren, obwohl ich ihn gar nicht darum gebeten hatte; … wer etwas von meiner Firma Fa. Kleines Büro für alles - Immer für Sie da will, kann ohne weiteres zu den üblichen Geschäftszeiten direkt vorsprechen, meine Vorsprechvorzimmerdame wird dann zusehen, ob ein Termin frei ist oder freimachbar, wir arbeiten, also ich als meine Vorsprechzimmervordame, bei Bedarf und zum Behufe der Steigerung des Bruttosozialproduktes durchaus auch an gebotenen Feiertagen, und das aufschlagslos – Sport ist eh Mord – … nun, wie auch immer: es kam keiner. (Selbst der Postbote nicht. Erst hatte ihn der Nachbarshund gebissen, ein sogar für die hiesige bayrische Einöde übles Tier, dann hatte die Post ihren Service in den Gemischtwarenladen des Nachbardorfes verlegt, lag also nunmehr dorten zur Abholung bereit, wäre nicht der Gemischtwarenladen prompt Pleite gegangen samt seines gleichzeitigen Verschwindens in einer Feuersbrunst. Damit hatte sich die Sache mit der Post erledigt.)
Und so warte ich weiter auf einen Griechen, der sich mein Freund nennt. Und wohl eines Tages auch erscheinen wird, als solcher.





Seit jeher ein Mann

mit ebenso weitreichenden wie verzweigten Geschäftverbindungen, so sehr seit jeher, daß es das Wort Diversifizierung noch nicht gegeben, zu Beginn seiner Karriere, und das Wort streuen wie das Wort streben war allemal nur in der Landwirtschaft in Gebrauch; seit jeher so einer, hatte es sich Herr Thalfär, der Mann mit dem Akzent auf dem ä und dem Widerwillen zur Welt als solcher, längst zur Angewohnheit gemacht, vom Schlimmsten auszugehen, wobei er dem Ausgang gewohnheitsgemäß noch eine Portion Abschreibung hin zum allervorstellbarsten Generaldebakel einrechnete. Und hatte nicht schlecht gelebt damit, ein Leben lang, Herr Thalfär.

Flogen Bomben um ihn, sah er Sternspritzer. War auf Hörweite gefoltert worden bis in den Tod: er hatte Gesänge gehört. Und das Versagen eines Vergasers war ihm, dem hartnäckigen Fußgänger, ein jedes mal Musike.

Alles in allem: Man muß Herrn Thalfär nicht mögen. Er mochte sich selbst nicht. Von der Welt zu schweigen. Die war und konnte ihm gestohlen worden bleiben. Was auch immer sie sich einbildete, zu sein.

»Normalerweise«, sagte Herr Thalfär normalerweise, also immer, wenn er darauf angesprochen wurde und die Ansprache im Vorgriff nicht durch rasche Flucht oder andere Ausweglichkeiten hatte vermeiden können, »normalerweise ist es ja so«, sagte Herr Thalfär, sich räuspernd: »Es ist alles nichts.« Und das sage ich, fügte er in Gedanken dann immer hinzu, das sage ich, der all dieses Nichts sich ins Bein implantieren hat lassen, der mit dem Gemunkele der Welt sein Auskommen findet, so weit er es auf Funkfrequenzen, die keinem entschlüsselbar, mitschneidet, um die Mitschnitte dann an den Mann, die Frau, die Welt sowie die investigative Presse zu verhökern, wissend, daß sie alle ihre Spielchen damit spielen, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, daß sie nichts als Spielbälle sind. »Trotzdem: Es ist alles nichts.«

Was denn dann wirklich was sei?, war Herr Thalfär eines Tages darauf gefragt worden.

Er hatte den Fragesteller kurz ins Auge geblickt und sofort Maß genommen; sich dann aber doch besonnen. Sein Handkantenschlag war immer noch tödlich, vermutete er, und die Zeiten waren vorbei.

»Wirklich?«, sagte Herr Thalfär, »wer will das wissen? Bereits am Unwirlichen, also dem, das uns tagtäglich umgibt, scheitern wir grandios.«

Drehte sich auf der Stelle, und ging los. Blieb am Gehwegrand hängen mit seinem linken Fuß, stolperte, und fiel in die Regenlache.
Was man nicht alles tut?, dachte er sich, als er sich wieder aufgerappelt hatte. Um der Welt auf die Füße zu helfen.





Die Meldung des Tages wäre


also«, sagte der eine der beiden älteren Männer zum anderen, »wäre also folgende: Niagarafälle: Japanerin stürzt in den Tod – Männerleiche entdeckt
»Wenn man davon ausgeht, der Tag sei bereits zu Ende und es käme nichts besseres mehr nach: in diesem Falle: ja«, sagte der andere der beiden älteren Männer.
Danach schwiegen sie wieder.
»Ein paar Stunden haben wir ja noch«, sagte der andere schließlich.
»Fünfeinhalb«, sagte der eine. »Grob geschätzt.«
»Dreihundertdreiundzwanzig«, sagte der andere nach einem Blick auf seine Armbanduhr und einigen Rechnereien. »Pieps. Zweiundzwanzig.«
»Du wieder«, sagte der eine,  »und dein irrer Glauben an die exakte Wissenschaft.«
»Einmal Ingeniör, nix mehr schwör«, der andere.

Statler, der eine, der mit den Büchern, und Waldorf, der andere und mit Kastenwägen im Geschäft, saßen wieder einmal oben auf ihrem Balkon und also im Hochparterreschaufenster des Vasenladens ihrer Nachbarschaft. Draußen war es saukalt in der Art dieser naß durch die klaffenden Wunden der Städte pfeifenden Böen und drinnen brannte der Ofen eine Dutzendschaft Keramik ins bessere Leben: die Dinge hätten schlechter stehen können; zum Beispiel umgekehrt.
So saßen sie beide da, und ihre Köpfe wackelten vor sich hin, als schaukelten sie wie Pappeln im Wind.

»Ich glaube ja, daß das meiste, was da draußen vorbeiläuft, uns für ausgestopft und also für nichts als Staffage hält«, sagte Waldorf schließlich, achtzig Atemzüge später.
Statler entleerte laut seine Lunge: »Solange sie nicht nach unserem Preis fragen. Solln sie. Die Japanerin macht mir Sorgen.«
»Du schleppst immer noch Reste von Humanität mit dir herum«, sagte Waldorf. »Wäre ich dazu fähig, es würde mich besorgen. Wirklich.«
»Naja. Fragt sich doch: Was ist an den Wassern des Niagara, daß er zu transnationalen Geschlechtsumwandlungen fähig ist?«
»Die Verwirbelungen«, sagte Stadler. »Stell sie dir als rießige Zentrifugen vor. Hochpotentielle energetische Zustände. Raumschiff Enterprise, Scotty, und Beamen und der Rest.«
»Die konnten aus einer Japanerin einen Mann machen?«
»Ist ja nur Film. Wirklichkeit kann mehr.«
»Wasserfall, wennschon. Stell dir vor, da steigt die Wasserwirtschaft dahinter. Ich mein, erfährt davon. Von der Meldung des Tages. Und den von dir postulierten Implikationen.«
»Die Hälfte der Strommacher würd morgen weiblich sein«, sagte Waldorf.
»Richtig. Und die Welt eine andere«, sagte Stadler. »Halbwegs.«











Soeben erschienen:


Inga Hosp, Almut Schüz, Zeno Braitenberg (Hrsg.): Tentakeln des Geistes. Begegnungen mit Valentin Braitenberg. Raetia Verlag. Mit Beiträgen von: 
Ad Aertsen | Wolfgang Sebastian Baur | Niels Birbaumer | Carla Braitenberg | Zeno Braitenberg | Elisabeth Braitenberg-Hanna | Stefano Crespi Reghizzi | Massimo Egidi
| Martin Heisenberg | Douglas R. Hofstadter | Bruno Hosp | Inga Hosp | Domitilla Lacarbonara | Kurt Lanthaler | Giuseppe O. Longo | Donata Loss | Fabio Nieder | Günther Palm | Michael Popp | Friedemann Pulvermüller | Mary de Rachewiltz | Franz Josef Radermacher | Juan G. Roederer | Almut Schüz | Antonia Vittorelli | Marco Wehr | Karin Welponer | Hans Wielander

darin

L‘uomo delle macchinette
(für Valentin Braitenberg)

Sie nannten ihn also, seit Jahren: L‘uomo delle macchinette. Anfänglich hatte er sich darüber noch erregen können, durch Mund und Nase geschnaubt und dabei den Kopf geschüttelt. Bis er begriffen hatte, daß es einzig dieses uomo delle macchinette, dieses grobe Mißverständnis war, das es ihm weiterhin erlaubte, in der Halle von Roma Stazione Termini, nun: seinen Studien nachzugehen. Tagaus, tagein.

Keinem sonst wäre, was er tat, nachgesehen worden, genehmigt schon gar nicht, jeder längst von den Ordnungskräften, Polizia ferroviaria, Polizia di Stato, Guardia di Finanza, Carabinieri, des Bahnhofs verwiesen, vom Ort verbracht bis an die Stadtgrenze, dort ausgesetzt bei Nacht und Nebel, wie üblich. Um im weiteren Verlauf, bei Wiederholungstäterschaft, mit Sicherheit in die staatsbahnhofseigenen, im tiefsten Souterrain gelegen Zellen gesperrt zu werden. Und schließlich dann, bestenfalls, in der Casa circondariale di Roma Regina Coeli zu enden, dem altrömischen Knast, den Rest seiner Tage.

Daß es nie so weit gekommen, und daß es so gekommen: alles eine Frage der Wesen.

Er war, damals noch ohne jeglichen Plan, was sein Leben und seine Tage betraf, im Schlendern auf ein Buch getroffen, irgendwann in den Achtzigern, und hatte es sich, von dem, was ihm an Handgeld noch verblieben, prompt gekauft. Noch ein Buch, von dem er nicht wußte, wie und wozu es in seinen Besitz gekommen war. Egal. Wichtig einzig: noch ein Buch. Künstliche Wesen. Die Sonne schien. Freiburg im Breisgau lag schon im Frühling, und das vereiste Berlin weitab. Eine nächtliche Transitfahrt, drei Blenden und zwölf Grad Celsius.

Er hatte, wie seine Gewohnheit, von hinten her in das Buch hineingelesen und sich dabei den Bauch wärmen lassen. Daraufhin war ihm hungrig geworden. Im Garten des Brauhauses fand sich ein halbbeschienener, ruhiger Tisch. Im Essen noch begann er das Buch von vorn und las.

Es wird von Maschinen sehr einfacher Bauart die Rede sein, so einfach, daß sie vom Standpunkt der mechanischen oder elektronischen Technik kaum als sehr  aufregend empfunden werden können. Das Interessante an den Spielautos oder ‚Vehikeln‘ entsteht erst, wenn wir sie mit denselben Augen betrachten, mit denen wir einen Stall lebendiger Tiere betrachten würden: wenn wir sie sozusagen als Wesen begreifen.¹

Dann tauchte eine italienische Reisegruppe auf und feierte, bereits bei Ankunft unwesentlich berauscht, vorgezognes Oktoberfest. Er verzog sich. Einige Jahre später, Berlin immer noch kalt, Freiburg schon wieder sonnig, er erneut zu Besuch, stellte er fest, daß der Autor der kybernetischen Vehikel zu einem Vortrag in der Stadt war. Hatte das Buch zwar nie zu Ende gelesen, viel zu viel war, damals, in Freiburg noch dazwischen gekommen. Zwischen ihn und das Buch, die Vehikel und die Wesen. Das Leben eben.

Die zwei langjährigen Assistenzärzte hinter ihm flüsterten sich Dinge zu. Daß der Vortragende wohl auch Anwärter. Unter der werten Kollegenschaft, im Saal versammelt, der eine und andere bittere Konkorrent um den Posten, den es, da das Hirnzentrum im frühen Planungsstadium, eigentlich noch gar nicht gäbe. Daß die aber sicher freundlich den Mund halten, wer aber, in der Diskussion gleich, aufstehe, um das eine oder andere anzumerken, durchaus von dem ein oder anderen vorgeschickt. Allzu durchschaubar, gewollt. Haifischbecken eben. Der vorn aber, in seiner Provokation der jargonlosen Einfachheit, durchaus mitunter auch vorgeblich, eben auch kein Zierfisch.

Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: Das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken.²

Von all dem, wie von weiten Teilen des Vortrags, verstand er nun wiederum nichts, ging aber tagsdrauf in eine Buchhandlung und kaufte sich das Buch noch einmal. Anschließend in die Spielwarenabteilung des Kaufhauses. Sodann auf sein Zimmer. Bausteine, Motoren, Sensoren, Kabel, Räder. Und das Buch. Es war, wie sich sehr viel später herausstellen sollte, der Tag, um den herum sich sein Leben drehte wie um die Achse.

Wie sie sich diese Fahrzeuge vorstellen, ist gleichgültig. Sie sollten sich an eine Denkweise gewöhnen, bei der die materielle Ausführung einer Idee viel weniger bedeutet als die Idee selbst.³

In den nächsten Wochen las er sich, diesmal durchaus zielgerichtet, Seite um Seite langsam durch das Buch. Holte Nachschub aus der Spielwarenabteilung. Und Batterien und Kerzen. Der Teppichboden bald ein Schlachtfeld. Der Hotelportier mißtrauisch. Der Kollege von der Nachtschicht aber ein kollaborierender Verrückter, der außerdem, vom Speisesaalabraum, für seine Minimalverpflegung sorgte.

Eines Tages, früher als geplant, er war erst bei Wesen 4a angelangt in seinen Konstruktionen, Beobachtungen und Versuchsanordnungen, hatten die Baukastenanschaffungen sein Budget zum Platzen gebracht, also machte er sich zechprellend auf und davon und nach Italien. Wegen seines inzwischen umfangreichen Gepäckes, die Wesen in Holzwolle und Schuhkartons verstaut, eine beschwerliche Reise. LKWfahrer seine größten Sponsoren. Und durchaus, während der Standzeiten, an den Vehikeln interessiert, denen er, im Standlicht der Camions, etwas Auslauf ließ.

In San Michele in Teverina dann, zufällig, was Lage und Liegenschaft betraf, gestrandet, landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter auf Natural­tausch­basis. Nachts und an Regentagen schließlich die Vehikel. Eine bunte Sammlung inzwischen. So verging die Zeit. Spielautos. Macchinette. Mechanákia. Gioccattoli. Spielzeuge. Vehikel. Sensoren, Motoren. Leitungen. Hemmungen. Erregungen. Schwellenfilter. Im Dorf nannten sie ihn längst »er professò«. Und klopften sich an den Kopf. Nachbar Natalino hatte das eine und andere mitbekommen und natürlich nicht geschwiegen.

Schließlich hatte er festgestellt, daß es richtig nicht Wesen der Gattung 4a sondern Wesen der Sorte 4a hieß, was ihm, in großen Schritten und augenblicklich, entgegenkam, da doch La sorte: Das Schicksal.

Sie werden sich schwertun, sich die ganze Vielfalt des Verhaltens vorzustellen, das Wesen der Sorte 4a an den Tag legen.⁴

Eines Tages fand man drei verendete Ziegen. Zwei Wochen drauf einige Schafe. Dann verschwand die alte Frau, die in dem in der profanierten Dorfkirche untergebrachten dopolavoro frühmorgendlich für blanke Böden gesorgt hatte. Keine gute Zeit für bereits verrufene Fremde, auch wenn sie seit zwei Jahren in der Gegend wohnten. Er hatte sich halsüberkopf aufgemacht. War nach Rom hineingefahren. Und in Roma Stazione Termini gelandet. Für den Rest seines Lebens.

Wir haben uns in Sicherheit gebracht, sagt einer. Das interessiert mich nicht, ich hab auf eine ordentliche Flucht gehofft, wegen der Sicherheit bin ich nicht gerannt, sagt der andere, das hat keinen Sinn, eine Flucht ist etwas anderes.⁵

Er war in den dunkleren Ecken des Bahnhofs untergekommen. Irgendwann kannte man ihn, er war der, der einen Karton hinter sich herzog, er war der, der aus diesem Karton eine Reihe kleiner Maschinen holte, Spielzeugautos gleich, halbarchäologische Legogebilde, die ihre Runden drehten auf dem verdreckten Boden der Bahnhofshalle, meist in ihren abgelegeneren Teilen, manchmal aber durchaus zu Ausflügen quer durchs Gelände und die Menschenmassen sich aufmachten unter dem gerippten Schalen­tragwerk aus der Zeit des Faschismus, und dabei meist, oh Wunder, unbeschädigt blieben. So wurde er im Lauf der Zeit ein Teil des Bahnhofes, seine macchinette ebenso, und sie waren es schließlich, die für ihren und seinen Unterhalt sorgten, nachdem er ihnen leere Konservenbüchsen auf den Rücken geklebt hatte.

Eines Tages, endlich, lernte er den alten Mann kennen, den er bereits an seinem ersten Tag im Bahnhof gesehen hatte, seither tagtäglich, sie waren aneinander vorbei und sich nicht ins Gehege, der andere, wie er wußte, inzwischen, seit von Anbeginn an Bewohner, Roma Stazione Termini ab 1937 gebaut, der alte Mann damals fluchtartig von seinem Arbeitsplatz an der Seite eines gewissen Cerlettis verschwunden. Und seither hier.

Seit 1938, eigentlich, sagte der alte Mann. Auch wenn da noch etwas Militär und Krieg waren, und dann ein paar Jahre in einem Büro, irgendwann, und das Jahr in einem Hotel in der Schweiz, aber, eigentlich, seit 1938, Dezember, um genau zu sein. Wegen eines einzigen Reisenden, sagte der alte Mann. Salvatore Emeri, 39 Jahre, Maschinist, wohnhaft in Mailand, auf dem Bahnhof Roma Stazione Termini verhaftet, weil er ohne Fahrkarte kurz vor der Abfahrt in Zügen umherlief. Er scheint nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, hatte der Kommissar geschrieben, sagte der alte Mann.⁶

Mit Wesen 4 war es dann auch schon gut. Denn mit Wesen 5 (Logik) hatte er, sobald eigentlich die Reihe an ihm gewesen wäre, sofort seine Schwierigkeiten gehabt. Und aufgegeben. Abgebrochen. Auf später verschoben.

Diese Kreaturen, wird er sagen, bedenken ihre Entscheidungen.⁷

Dieses Später war nicht mehr gekommen, bisher. Und so standen ihm die Wesen 5 bis 14 als reines Andermal vor Augen. Und Wesen 1 bis 4a zur Seite. Über 4b, immerwährend in Bau und nie vollendet, bis auf eine Handvoll Testläufe auch nie in freie Wildbahn gesetzt, wollte er den Rest seiner Tage nachdenken.

Vielleicht ist das nicht das schlechteste Kriterium, um die Existenz eines freien Willens zu behaupten.⁸

Unter Verwendung (kursiv) von

Valentin Braitenberg. Künstliche Wesen. Verhalten kybernetischer Vehikel. Braunschweig; Wiesbaden: Vieweg, 1986 (1,3,4,7,8)
Theodor W. Adorno. Jargon der Eigentlichkeit. Zur Deutschen Ideologie. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1964. (2)
Kurt Lanthaler. Roma Stazione Termini. in: Weißwein und Aspirin. Hirnrissige Geschichten. Zürich, Diogenes Tb, 2002. (6)
Kurt Lanthaler. coglione! Romanfragment, 1981-1985. Wien, Wespennest 58, 1985. (5)


XXX




Es ist dem Leopold


das Gold nicht hold, sang Herr Thalfär den alten Schlager vor sich hin. Und wußte, daß es ihm, und keiner wußte davon, ganz anders ging.

Er hatte sich, vor Jahren bereits, lang vor dem hysterischen Boom der Gurus des Goldes, ebensolchenes in den Unterschenkel implantieren lassen; von einem verschwiegenen Bukarester Chirurgen. Und zwar dermaßen, daß bei etwaigen Röntgenaufnahmen (dem Anti-Islam-Zugangscanner zum Supermarkt zum Beispiel; Flughäfen mied er seit Ewigkeiten) das Implantat als Schienbeinreparatur (Plattenosteosynthese der Tibia: der Fachjargon lag griffbereit im Vorderlappen bereit) durchgehen würde. Seither ein Viertelkilo schwerer, Herr Thalfär. Und im Besitze eines Skalpells No. 10 und dreier Ampullen Lidocain.

Er war nicht reich. Er hatte nur seine Ausgaben aufs Allerwesentlichste, und also Vernünftigste, beschränkt. Saß am Tag in einem nur wirklich Interessierten bekannten Kellerlokal in der Silbergasse, in dem er  einen sehr kleinen Laden in Im&Export noch sehr viel kleinerer elektronischer Geräte betrieb (für die andere meist den Kammerjäger rufen) und trank Wasser. Lag nächtens in dem kleinen fensterlosen Raum hinter seinem Laden, aß Zwieback und trank Tee, und schaute an die Decke.

Und tagtäglich vormittags zwei und nachmittags zwei Stunden stummen Spazierganges an den Rändern der Stadt, immer in Begleitung eines Gehstockes, dessen Goldknauf (die Welt ist schlecht) messingüberzogen war. An manchen Tagen allerdings machte sich Herr Thalfär Sorgen: es waren die Tage, an denen er überzeugt war, die Welt sei zusätzlich auch noch dumm. Und dann bereute er, daß er sich nicht doch für den Chamoislederüberzug entschieden hatte.

Es war auf einem dieser Spaziergänge, daß ein Plan in ihm erst wie aus dem Nichts aufgetaucht, und sich dann, Schritt für Schritt, sozusagen, ausgewachsen, Hand und Fuß bekommen, sich also artikuliert hatte, bis er, der Plan, Tage später, sozusagen in vollendeter Gestalt vor ihm gestanden hatte.

Und er, Thalfär, vor dem Geschäft. Tierhandlung Get a Pet lag, wie sein täglicher Spaziergang, am Rande der Stadt und sah, von außen betrachtet, nach einem Gefängnis aus. Thalfär hatte sich vorbereitet. Gelesen und gelesen. In der Bibliothek, da war es jetzt deutlich wärmer als in seinem Laden. Daß der Geschäftsgang darunter etwas gelitten hatte, war ihm die Sache wert gewesen.

Wie alt denn der älteste hier käuflich erwerbbare Goldfisch sei?, fragte Herr Thalfär. Der Verkäufer sah ihn verwundert an. Na, sagt er dann, das übliche halt: Ein Paar Zentimeter groß.
Der allerälteste Goldfisch sei, bisher nachweisbar, von den anderen wisse man nichts, weil kein Mensch so lange je hingesehen habe auf den Goldfisch; von seinen Möglichkeiten her, alles eine Frage der Zellteilung, sei ein Goldfisch nämlich eigentlich auf Unsterblichkeit ausgelegt …, der älteste Goldfisch sei auf über 50 Jahre gekommen. Und ein Bursche von stattlicher Halbmetergestalt gewesen.
Unsere haben die normale Lunaparkgröße, sagte der Verkäufer. Andere habe er auch noch nie gesehen. Aber sie würden sicher noch wachsen, bei vernünftiger häuslicher Pflege. Wozu er eine große Auswahl an hochmodernen Aquarien im Angebot ...

Soviel Zeit, sagt Herr Thalfär, habe er leider nicht mehr. Und geht. Und denkt:  Einen kleinen Goldfisch auszustopfen und ihn dann blattgolden zu überziehen: ist den Aufwand nicht wert. Das ist nicht der Plan.






Herr Thalfär lachte


auf. Er, der in einem nur wirklich Interessierten bekannten Kellerlokal in der Silbergasse einen sehr kleinen Laden in Im&Export noch sehr viel kleinerer elektronischer Geräte betrieb (für die andere meist den Kammerjäger rufen), war seit geraumer Zeit in Gold investiert.
Da waren ein Prämolar und zwei Molare, gesamt also drei Backenzähne, ein massiver Gehstockknauf (samt Messingüberzug: die Welt ist im Zweifelsfall schlecht) sowie ein bei Bedarf und entsprechend kaltem Willen mit einfachstem Werkzeug schnell freilegbares 250-Gramm-Implantat im Unterschenkel.

Das, sowie die auf seinem privaten Wunderhof sorgfältig in einem Nasco - so waren in den seligen Gladiozeiten die Sprengstoff- und Hilfsmittelverstecke kurzbenannt worden - vergrabene Edelmetallreserve gab ihm ein Gefühl von Unsicherheit. Und das beruhigte ihn ganz ungemein.
Denn nichts war Herrn Thalfär verhaßter als dieser allüberall grassierende, wollüstig wuchernde graugreuliche Zustand solider Sicherheit. Und noch nie in seinem langen Leben war es so schlimm gewesen damit. Er mußte es wissen. Er war der Fachmann fürs Diversive. War Agent der Diversion. Gewesen. Inzwischen nichts als Ruhe im Karton.

Er konnte kaum mehr auf die Straße gehen. Hatte seit Ewigkeiten kein Kino besucht. Mied Bahnhöfe. Hatte längst ganz auf Parkanlagen, Parkhäuser und Parkhotels verzichtet, blutenden Herzens. (Man sagt das so; de facto stand es sogar um sein Herz bestens. Vom Mechanischen, Elektrischen sowie Strömungstechnischen her gesehen.)
Es war nicht mehr seine Welt, und Herr Thalfär hatte längst alle Hoffnung fahren lassen wie einen flauen Flatus im Morgengrauen. Als es das Schicksal endlich wenn schon nicht gut, so doch leicht besser meinte mit ihm.

Es war nämlich in den frühen Vormittagsstunden ein Mann in seinen kleinen Kellerladen eingetreten und hatte sich unsicher umgesehen.
Ob er denn hier richtig sei? Das hänge ganz davon ab, sagt Thalfär. Verstehe, sagt der Mann. Und hatte nichts verstanden. Er habe, er sei sich nicht sicher, gehört, … Auf jeden Fall: Er benötige eines dieser Geräte. Dazu einen Fachmann. Es sei nämlich so: Er rede des Nächtens im Schlaf. Da er aber alleine im Bett liege, wisse er nicht, was. Und das sei ihm gar nicht recht. Andererseits aber: Wenn nun eines dieser Geräte, die hier wohl zu haben seien, getreulich aufzeichne, daß er des Nachts: nichts als Normalitäten von sich gäbe... Horror. Ob man denn, mit den Geräten, hier auch eine Transkription der Aufzeichnungen bestellen könne. Und ob, gäben die Aufzeichnungen nichts Außergewöhnliches her, man nicht, es sei ja wohl ein Fachgeschäft für solches, die Aufzeichnungen, nun: entsprechend überarbeiten können, Fachmännischerseits?
In welche Richtung?, fragt Herr Thalfär. Nun, sagt der kleine Mann: Gern hin zum Schlimmsten.
Mit Sicherheit, sagt Herr Thalfär. Und lacht auf.






Tschiggfrey


(ein starker Qualmer), der sich sein Leben lang, das grad mal eben halbjahrhunderlich, Tschiggfrey - ein wenig kurzatmig allerdings bereits - hatte sich seinen Namen nie klargemacht.

Er hieß so, seit er zur Welt gekommen war, sein Vater ebenso, sein Großvater.
Großvater war Pfeifendeckel des k. u. k.-Feldkaplans am Col di Lana gewesen und hatte deswegen die grandiose Sprengung des Berges durch die Italiener überlebt; der geistliche Herr war samt Bedienstetem Stunden vor dem Exitus vom Berg in die sichere Etappe abberufen worden.
Undankbar, wie Vater ob der Tatsache des Überlebens seines Erzeugers und seiner damit erst möglich gewordenen Erzeugung gewesen war, hatte er nur in Ausnahmefällen, und das heißt: an allerhöchsten Familienfesten und erst nach dem dritten Glas zu einer Zigarette gegriffen. Und prompt jeweils grau geworden um die Nasenspitze.
Tschiggfrey selbst hatte der Schande ein Ende gemacht und war mit vierzehn zum behänden EsportazioneSenzaFiltro-Raucher geworden.

Ihn hatte der Kinderspottgesang nie getroffen, dem seine Nachbarn ausgesetzt gewesen waren: Tschigg.Tschagg.Schnupftabagg der eine, der Tschigg. FreiFrauvonFrei/bringAnEiVorbei die andere, die Frei. Ihm, dem Tschiggfrey: Nichts.

So war ihm sein Namen nie etwas gewesen, was bedeutet hätte. Irgendwas. Tschiggfrey eben, und etwas umständlich im spelling mit überseeischen Geschäftspartnern. (Daß ein Tschick auch im Österreichischen eine Zigarette; und daß ein Tschiggfrey in den Bombenjahren Landeshauptmann gewesen, hatte er erst am Ort dessen Wirkens, in Innsbruck, erfahren; Jahre später. Und dabei festgehalten: Nein, er habe keine Verwandschaft.)

Dann war wieder Ruhe gewesen.  Und er hatte, so weit das möglich war, seinen Namen vergessen. Hätte ihn natürlich jederzeit - Wie heißen Sie, was ist Ihr Reiseziel? - Amtspersonen gegenüber herunterbeten können. Aber eben: ohne eigentlich zu wissen, was er da sagte.
Und auch als die Rauchverbote ins Land und über die Länder gezogen waren: Tschiggfrey war nichts aufgefallen.

Dann aber reserviert er, letzte Woche, für sich und zwei nigerianische Geschäftsfreunde, einen durchaus gehobenen Restauranttisch. (Wer über Nigerias Wirtschaft lacht, hat vor Jahren auch über die chinesische gelacht. Und nunmehr Sorge, demnächst müßten in der Stadt alle Einheimischen schließen, da längst alles chinesisch. Also. Mal Maul halten.) Und hatte mit weiser Voraussicht das eine gewählt, als Restaurant, das zum einen beste Küche und abgründige Weinkarte, zum anderen als solches zweigeteilt: in Nichtraucher- und Raucherrestaurant. »Tschiggfrey, 21 Uhr, ist notiert. Wir freuen uns.«

Und jetzt saß er da, mitten in den Schweiß- und Parfumwolken der Rauchfreien. Und verfluchte erstmals den k. u. k.-Feldkaplan.






Vor die Wahl wie an die Wand


gestellt, Arzt zu werden oder krank, hatte sich Thalfär bereits vor geraumer Zeit für zweiteres entschieden. Und bis dato war die Rechnung aufgegangen. Er war, zumindest wissentlich, noch keinem Arzt begegnet. Was in ersterem Falle, so viel war klar, unausweichlich geblieben wäre - und spräche man alleine von dem Spiegel im Bade.

Als Sturzgeburt hatte er Facharzt für Entbindung wie Hebamme (auch Ärztegleiche zählen als Ärzte; das schloß im Extremfall selbst Heizungstechniker wie Automechaniker ein) elegant umschifft, und war am groben Bretterboden zu liegen gekommen. Bis er sich aufgerappelt hatte.

Dem grauen Kastenwagen dann, eigentlich ein alter Kleinlaster, dem ein Röntgengerät eingebaut war, auf daß er staatlich von Schulhof zu Schulhof fahre auf der Suche nach versprengten Tuberkeln, war er durch einen beherzten Sprung in den anliegenden Entwässerungsgraben entkommen; und damit einer Strahlendosis gleich zwanzig Fukushima. (Die Erziehungsberechtigten tagsdrauf in die örtliche Carabiniere-Kaserne vorgeladen, und ermahnt. Da war‘s aber schon zu spät. Und der Röntgenwagen längst vom Hof. Das Jahr drauf dann, sowieso, abgeschafft. Er hatte es sich auf die Fahne geschrieben.)

Der Musterung zum Militär, älter geworden also, Thalfär, ging das Gerücht voraus, es würde einem an den Sack gelangt und man hätte dazu zu husten. Das weder als solches noch in der Kombination fürs erste besonders schlimm, bis zu dem Augenblick, als klar wurde, es würde ein Arzt dies tun. Und er huste dabei meist nicht. Thalfär also flugs fahnenflüchtig. Und übers Gebirg. Nächtens, der alte Schmugglersteig. So kam ihm ein Land abhanden.

Und so ging es weiter, ein Leben lang.

Mir der einen Ausnahme freilich - was ist das Leben schon anderes als eine einzige Ausnahme? - : das Jahr, als er, dreikäsehoch (man stelle sich das nicht anhand von Parmesanrädern vor), als Doktor Eisenbart in den Fasching ging. Kurier die Leut nach meiner Art / Die Blinden mach ich wieder gehn / die Lahmen können plötzlich sehn.

Und Grund für das alles nichts als der eine, einzige Satz: »Die Ärzte enthalten sich der Prognose.«
Was Thalfär, in der landschaftlichen Sprache seiner Kindheit, sich prompt folgendermaßen dechiffriert hatte: Die Ärzte behalten ein Stück Nase ein. Von jedem ihrer Patienten. Zumindest von denen, die es in die Radionachrichten geschafft hatten, vor denen Thalfär kindlich begeistert Wort für Wort gesessen und, damals noch, auch Wort für Wort für wahr genommen hatte.

Inzwischen steht Thalfär im hohen Alter und überlegt, doch noch einen Arzt aufzusuchen: Wer möcht schon ewig leben.





Das Schöne aber

an der Sache ist: Schön ist daran so gut wie gar nichts. Auf den ersten Blick nicht, auf den zweiten noch weniger, und, gäbe es so etwas wie den Letzten Blick ... Nun, wir wollten ihn nicht wirklich tun. Auf das Schöne schon gar nicht, ich bitt'Sie. Also, was ist: Kaufen Sie?«

Wie das eben so kommt, an einem warmen Frühherbsttag, die Welt aus dem Urlaub längst wieder zurück in der Welt, also am Arbeitsplatz, und du wieder am Nichtstun (und vom Nichtstun bräuchte es zwar auch einen Urlaub, gibt es aber keinen) und so, also nichtstuend, querst du den Platz, an dessen einen Seite die Museen, an dessen anderen Seite die Einkaufsstraßen alles zu bieten haben, was schön und gut ist. Sagt man.
Anfänglich hatte ich auf der Sitzbank einer Bushaltestelle am Platzrand gesessen und in einer dieser Gratiszeitungen gelesen. Im Wartehäuschen einer Bushaltestelle geriet am frühen Montagmorgen ein Mann in Brand. Es handelt sich um einen Nichtraucher. Daraufhin war ich aufgestanden, hatte mir eine angezündet, und war losgegangen, auf die Platzmitte zu. Und dabei war er mir ins Auge gefallen.
Er stand stumm da, drehte sich langsam um sich selbst, eine Art Radnabe inmitten des Platzes, vor dem breiten Brustkorb ein Koffer, mit Gurten so am Körper befestigt, daß er waagrecht von seinem Bauch abstand. »Kommen Sie!«, rief er.

Drei solcher Brustvorbautentypen hatte ich in meinem Leben schon gesehen. Der eine trug nichts als eine Art Frühstückstablett vor sich her, auf dem, es war in meiner Kindheit, irgendwelche gummigzotteligen Fabelwesen wie wild herumsprangen, angetrieben von einer unsichtbaren inneren, nun, ich dachte damals: Wut. Und ging weiter.
Dann kamen die Herren in Uniform im nächtlichen Korridorzug durch den deutschen Osten. Aktenkoffer vorm Bauch, kaum unterarmbreit, aufgeklappt, so daß so etwas wie ein mobiler, bauchladiger Amtsschreibtisch entstand, wobei der offenstehende Aktenkofferdeckel jeden Zublick verhinderte, mein Reisepaß also im Nirwana, weil dahinter, verschwand, um dann, nach geduldigem  Geblättere, währenddessen Zeit war, sich nach Mitgeführtem zu erkundigen, also »Waffen, Sprengstoff, Drogen?«, was mich etwas ratlos ließ, da ich mir das in dieser Reihenfolge noch nicht überlegt hatte, um dann, der Paß, ratsch-ratsch, einen Durchreise-Eintritts-Stempel abzubekommen.
Sodann, vor kurzem, der Würstlgriller. Kleiner Koffer wiederum, Deckel diesmal, aus gutem Grunde, brustseitig aufgeklappt, wenn auch nicht ganz: am Kofferboden glühte Asche, der Deckel heizte von oben schräg aufs Grillgut. Im Hüfthalfter Servietten, Senf, Ketschup und Kasse.
Und nun der hier. Mit verschlossnem Koffer. Ich hatte ihn gefragt, was er denn da: Schönes verkaufe?

»Das werden Sie sehen, sobald Sie es gekauft haben.«
»Schön und gut«, sagte ich, »aber ist das nicht, unter Umständen, etwas spät?«
Worauf er, wie gesagt, aufs Schöne zu sprechen kam. Um dann aufs Gute zu kommen. »Und gut gibts schon mal gar nicht, mein Lieber. Also?«
»Besser spät als gar nicht«, sagte ich. »Ich nehm zwei.«






Kessels Chorta

Chorta

Ein Gutes hat der neue Arbeitsplatz, von dem ansonsten nur zu sagen ist, daß es ein Arbeitsplatz ist, und neu ist daran auch nicht viel. Ein Gutes hat der neue Arbeitsplatz auf jeden Fall: er kennt sich seitdem aus am Flughafen. Und man kennt ihn.

Nicht daß er Flughäfen liebte. Hat sich, und ist fast fünfzig Jahre alt geworden damit und hat auf drei Kontinenten gearbeitet, er hat sich bis jetzt erfolgreich dagegen gewehrt, in so einen Flieger zu steigen und selbst zum Flieger zu werden. Eine Frage des Gefühls mehr noch als eine Frage der Geschwindigkeit. War durchgekommen damit, meistens. Dann nehmen Sie eben den Dampfer, verehrter Meister, Oberdeck. Wem das zu langsam gegangen wäre, dem wäre er selbst mit Sicherheit auch zu langsam gewesen. Dreimal war es soweit gekommen, er hatte eine Postkarte geschickt. Sorry. Beim letzten Mal hatten sie es mit einem Messer der Messerschmiede Aoki des Meister Doi versucht. Er hatte es behalten: höchste Kunst. Und ihnen die runde Million Yen angewiesen, achttausend Euro. Sorry. Das Geld war wieder zurück überwiesen geworden. Wir erlauben uns, bei Gelegenheit wieder auf Sie zuzukommen, best wishes. Er hatte die Yen noch einmal übers Wasser geschickt. Kommentarlos. Daraufhin hatten sie kapituliert.

Und ungefähr zeitgleich gings Gerede im Gewerbe. Er hat kapituliert. War abzusehen. Weltfern. Irgendwie dann doch auch ein Sonderling. Und das ist was anderes, als unserseins, die wir nur leicht extrovertiert sind. Wofür wir nichts können, weils eine Berufskrankheit ist und von uns verlangt wird. Und reden wir nicht von denen, dies im Fernsehen treiben. Aber. Aber was der sich. So wie der. Muß auch nicht. Und außerdem. Die langfristigen Kredite.

Hat man ja alles, so wenig man auch hinhört, im Ohr. Bis man sich aus dem Staub macht. Und am Flughafen landet. Zweite Ebene. Mövendingsda. Grillplatte. Fleisch warm machen in zwei Schichten. Nix mehr dran zu tun. Portionsweise abgepackt samt Geschmacksverstärkern und Weichmachern. Sekundentakt. Blatt Salat beilegen. Und auf die Pass. Dazu kleine Absteige im Kreis Fünf, zwei Stockwerke über einem italienischem Gemüsehändler, der noch nicht mitbekommen hat, daß das Loch, das er mit seinem sturen Laden in die Haushaltskasse reißt, seit mindestens fünf Jahren durch die kleinen Nebengeschäfte seines Sohnes geflickt wird. Die Zeit zwischen den Schichten auf Spaziergang den Hang hinauf. Einfach drauflos bis in die Dunkelheit hinein. Den Grillplattengeschmack aus dem Körper bekommen. Und dann irgendwie wieder retour. Torkelnd, als ob besoffen. Dabei sturznüchtern. Wie selten noch. Nase in Wind, Mund sperrangelweit auf, Durchzug.

Und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Ein Gutes hat der neue Arbeitsplatz, von dem ansonsten nur zu sagen ist, daß es ein Arbeitsplatz ist, und neu ist daran auch nicht viel. Ein Gutes hat der neue Arbeitsplatz auf jeden Fall: er kennt sich seitdem aus am Flughafen.

- Kessel, Sie wissen, daß Ihnen ein Strafverfahren bevorsteht?
- Weiß ich.
- Heikle Sache. Amtsanmaßung, Erschleichung, und unter Umständen Mißbräuchliches Tragen Staatlicher Hoheitszeichen.
- Nur weil ich mir eine Jacke ausgeliehen und ein paar Taschen kontrolliert habe. EU-Einreise-Zollkontrolle. Was ist das schon.
- Eben. Zollkontrolle. Aber Sie sind Koch.
- War ich. Ist lange her. Heut bin ich Fleischverbrenner. Aus freien Stücken.
- Auf Ebene zwei.
- Ja.
- Wir haben eben die Analysen reinbekommen.
- Ja.
- Und jetzt begreif ich gar nichts mehr.
- Weil?
- Na ja. Das Zeug ist ganz gewöhnliches Unkraut. Keine Halluzinogene, keine wie auch immer gearteten Wirkstoffe. Also nichts, was auf dem Index steht. Wieso haben sie die Koffer dann nach dem Kraut abgesucht? Und es, wie sagen, beiseite gebracht?
- Das Zeug heißt Chorta. Deswegen.
- Und?
- Chorta schmeckt einzigartig.
- Und kommt aus Griechenland. Alle Koffer kamen daher. Man könnte sagen, sie hatten es auf den Flug aus Saloniki abgesehen.
- Feiertagsreiseverkehr. Jeder richtige Grieche, also jeder fünfte, hat ein Kilo, also eine Plastiktüte voll, davon im Koffer.
- Das ist kein Verbrechen.
- Doch. Chorta schmeckt einzigartig. Und mir war danach. Nach diesem einzigartigen Geschmack. Der alles aufhebt. Einfach, wie er ist.
- Sie können es nicht wissen, aber: Ich bin ein passionierter Hobbykoch.
- Und?
- Ich kenne Ihre Vergangenheit.
- Dabei sind Sie wohl eher für meine nähere Zukunft zuständig.
- Und wie sollte die aussehen?
- Naja. Ein einfacher Herd, irgendwo. Ein Topf. Etwas Wasser. Olivenöl. Weinessig. Salz. Pfeffer. Und …
- Und?
- Chorta.
- Gehen wir.
- In den Knast.
- Zu mir. Im Knast essen mir zu viele mit.








Die Geschichte mit dem Elefanten

und der Elefant, um den es geht, war in mehrfacher Hinsicht ein Unikat. Zum einen besaß der Elefant keinen Namen. Was damit zusammenhängen mag, daß er unter der Brücke hauste, jedem aus dem Weg ging, auf Fragen, der nach dem Weg zur nächsten Tankstelle etwa, höchstens etwas mürrisch mit dem Rüssel wackelte, und ansonsten tat, als ginge ihn alles nichts an.

Die Brücke, unter der der Elefant hauste, stand in einer Gegend am Rande der Stadt, in der vor dreißig Jahren noch die Ziegen das Kommando über gehabt hatten; dann aber war die Stadt zur Großstadt gewachsen wie eine Eiterbeule bei achtzig Grad im Bratofen, Lagerhallen, Garagen, Häuser, und, zwischen ihnen, die Stadtautobahnen auf ihren Stelzen, und die schattigen, wenn auch menschenvergessenen Ecken darunter, dunkle Flecken, an die sich kaum einer traute, nachts schon gar nicht, ans Nichts verlorene Landschaften, tagsüber derart betonheiß, daß die Schweißtropfen zischend verdampften.

Hier, unter einer dieser Brücken, hatte sich also eines vergangenen Tages der Elefant niedergelassen, wortlos, und unbeobachtet. Die ersten, die ihn im sommerbrütendheißen Schatten leise schaukelnd stehen sahen, trauten ihren Augen nicht, wischten sich den Schweiß von der Stirn und schüttelten den Kopf. Unmöglich. Punkt. Bei der nächsten Vorüberfahrt dann stand er immer noch da.

Es hatte in diesen Tagen aber ein junger Bulgare eine Geschäftsidee auf die Füße gestellt: Er erntete, zusammen mit vier seiner bulgarischen Cousins, auf den Feldern der Bauern in der Nähe der Stadt, noch in den Nachtstunden, was auf deren Feldern wuchs; also Pfirsiche, Wassermelonen, Zuckermelonen. Fuhr sie mit seinem uralten bulgarischen LKW in den allerersten Minuten der Dämmerung an den Rand der Stadt, wo dann die nächtliche Tagesernte auf die offene Ladefläche genauso klapprige Transporter verladen wurde, jeder der Transporter zudem mit einem weiteren Cousin und dessen Kindern oder Frauen sowie einem Megafon bestückt und also bestens vorbereitet für den ambulanten Straßenverkauf in den kochenden Straßen der Stadt. Nächtens dann trafen sie sich wieder unter der Brücke am Rande der Stadt, schaufelten das zugrunde gegangene Obst von der Ladefläche und versuchten, drei Stunden Schlaf zu bekommen, bevor der neue Tag und das neue Geschäft wieder anging.

Der Elefant aber tat sich an den Obstabfällen seiner neuen Nachbarn gemütlich, und ab und an schleuderte er Wassermelonen gegen den Brückenpfeiler und sammelte die Brocken ein. Einen Teil des Obstes allerdings schob er regelmäßig zur Seite, ließ es einen Tag in der Hitze liegen und machte sich dann über die vergorenen Fruchtzucker her.

Am 14. August aber war der Elefant verschwunden. (Man traf sich dann, Obstbulgaren und Elefant, am 15. August oben auf Panagia Soumela, bei der Heiligen Muttergottes der reisenden Balkanen, hundert Kilometer westlich von Thessaloniki; und feierte bis tief in die Nacht.)







Was hast, Tschenett, was


bitte ist das denn für ein Gesicht, mit dem du da herumläufst? Gegen ein kirchliches Bauwerk gelaufen? ..., ach lassen wir das.
Was soll mit meinem Gesicht sein?, sagt Tschenett. Und wen interessierts?
Nun, sag ich, mich.
Dich, sagt Tschenett. Als ob du wer wärst.
Stranulato, sage ich. So schaust drein.

Wie schau ich drein?, sagt Tschenett, lange Zeit später. Sags nicht. Ich wills gar nicht wissen. Ich weiß es. Ich glaub nämlich, mir hat geträumt.
Nicht du auch noch, sag ich, ich bitt dich, in diesen Obamazeiten.
Ach die, ach der. Sagt Tschenett. Die sollen erst einmal die SIAE und also Vergügungssteuer zahlen für die tausende Stunden, wo sie Gefesselten in Guantanamo ungefragt und tuttociodo AC/DC, Aerosmith, Bee Gees, Springsteen, Dr. Dre, Eminem, Hed P. E., James Taylor, Limp Bizkit, Meat Loaf, Neil Diamond, Nine Inch Nails, Prince, Queen, Rage Against the Machine, Red Hot Chili Peppers vorgespielt haben. (Und Britney Spears sowie Christina Aguilera.)
Geträumt, sag ich. Dir.
Eben. Sagt Tschenett. Mir träumte, wir hätten ein Schiff voller Kühe geschmuggelt. Also: Der Frachter, ein langes Ding von siebzig Metern, aus Varna in Bulgarien kommend, schleicht sich nächtens ins Küstengewässer.  Am Steuer mein alter Freund Pietrin Pittaluga. Ein Genoveser und ein richtiger Hund mit diesen Frachtern. Stell dir vor, der fährt da ungebremst Richtung Land an, wirft dann plötzlich Anker, läßt dem Anker nach und nach Kette und, Maschine voraus, Maschine zurück, der Frachter gleitet auf die mondnächtliche Küste zu wie Zucker, und im Spiel zwischen Maschine und Anker schafft es der Pietrin Pittaluga, dieser alte Hund, Kiel und Frachter butterweich ins Seichte zu setzen. Der Trick dabei, ich hab das oft genug erlebt mit ihm: Sobald das Schmuggelgut von Bord ist, wird er die Ankerwinde arbeiten lassen: und zieht sich und Frachter damit wieder ins offne Meer. Ein wilder Hund. Sind wir also da, wo der Pietrin uns haben wollte: So nah am Strand wie man sichs nur wünschen kann, es fehlen vielleicht fünfzig Meter aufs Trockne. Unweit Capalbio Scalo. Bis hierher ist der Traum ganz in Ordnung. Ich kenn diesen Pietrin Pittaluga, ich kenne seine Seemannstricks. Und Kühe hab ich auch schon gesehen, früher. Aber bulgarische Kühe durch die Luke ins Wasser treiben? Sie stellen sich dumm. Wir kommen ihnen mit Stöcken. Nichts. Stromstößen. Dann springen sie. Da schäumt das Wasser auf. Sie schwimmen, endlich, an Land, wir links und rechts von ihnen, Schwimmkuhhirten. Da stehen dann die Viehtransporter. Wir laden auf. Haben unseres getan, und sind sie endlich los.
Na dann, sag ich, ist ja gut mit dem Traum.
Gut?, sagt Tschenett. Als ob heut noch einer Kühe schmuggeln würde. Aber das ist nicht wirklich das Problem.
Welches dann?, sag ich.
Ich weiß nicht mehr, warens magere oder fette. Sagt Tschenett.
Und weil er verstummt und eine ganze Zeit lang glasig ins Nichts schaut, sag ich: Was ist?
Ich zähl grad. Sagt Tschenett. Ich zähl grad die Küh.
Und?
Neunundvierzig. Sagt Tschenett. Sieben mal sieben.

(Annotate. Kürzestgeschichten. 12/03/10)





Zukunft? Ich bitt Sie!,

bitterschön, ich mein: Warum nur sieht alles, was Zukunft sein sollt, so nach Vergangenheit aus? Mir zumal. Könnten Sie mir das vielleicht sagen, am besten gleich?«
Es war eine mir unbekannte Stimme, draußen vorm Fenster wars über Nacht schlagartig bitterkalt geworden, ich hatte vergessen, das Telefon auszustöpseln und, schlimmer noch, reflexartig zum Hörer gegriffen, als es klingelte. (...) Zudem der Kaffee längst nur noch lauwarm, weil die Zigarette aufm Balkon sich länger hingezogen wegen eines sturmverworfenen Topfbaums, der wieder gradzustellen, was zu einem zerbröselnden Untersetzer...
Dermaßen ein Sautag also, daß mir Vergangenheit wie Zukunft längst schnurzegal, ernüchtert wie ich war von der Gegenwart. Ich wär, hätt  ichs gemußt, nicht mehr aus dem Haus gegangen an dem Tag; da ein Ausritt aber von Haus aus nicht im Programm, blieben nur mehr wenige Möglichkeiten, die Welt und ihre Unbillen abzustrafen. Also sagte ich: »Wie bitte?«
Lange Pause. Und, wenn ichs richtig verortete durch die Leitung, ein linker Lungenflügel, der leis und durchaus nicht unmelodisch vor sich hinpfiff, synkopisch.
»Warum nur«, sagte die fremde Stimme schließlich, »sieht alles, was Zukunft sein sollt, so nach Vergangenheit aus?«
Vielleicht habe ja irgendwer die Schraube verkehrtrum hineingedreht in die Welt, antwortete ich und las die neuesten Meldungen aus dem LHC vom Monitor ab. (Es ist dies mein täglich erstes Brot. Sehn, ob die Welt noch steht und wie es ihr geht. Der Blick in die Entdeckungsmaschine Teilchen- beschleuniger. Seit dem Tag, an dem ich den Leichtmatrosen Laik aus Leuk zum Käptn und mitsamt seinem Schiff via Wurmlochfontäne auf den Ütliberg - naja, ich will nicht anmaßend sein; also nicht: gebeamt, sondern: - befördert hatte. Um mir im Gegenzug am Röntgenplatz einen blauen, von groß zu größer werdenden Zeh zu holen. Das klingt jetzt absurd, ich weiß, ist aber pure Physik.)
Preparing for stable beam to GLM. Transmission seems pretty good, now moving onto burning some paper.
Gute Nachrichten, dachte ich. Da wirds dem Kaffee gleich wärmer ums schwarze Herz. Und war prompt bessrer Dinge.
Also erlaubte ich mir, die Leitung stand, die Lunge pfiff noch, höflich bei der Fernsprechgegenstelle nachzufragen, wer denn da überhaupts sei, am andren Ende.
»Wer ist da, wer war da, wer wird da sein?«, sagte die Stimme daraufhin. »Geben Sie mir die Antwort gestern.«
Ich bedankte mich und legte auf. Der Tag endete dann, später, mit Friede, Freude, sowie Eierkuchen.
Paper burning done, very nice beam spot, in the middle. That concludes this session of stable beaming.

(Annotate. Kürzestgeschichten. 09/11/09)





Das Geschrei des Buches

der Tatjana Wpunkt war noch die ganze Nacht über zu hören. In einem ansonsten ab abends elf totstillem Viertel.
Es war ein Dienstagabend gewesen. Denn Mittwoch ist Altpapierabholungs-
tag, und die Bewohner dieser Stadt in den Bergen und am See pflegen, auf durchaus präzise sowie strafbewehrte Anleitung der Verwaltung hin ihre Altzeitungen fein säuberlich zu falten, sodann Stoß auf Stoß zu legen (im Falle eines sich unerwartet höher aufstockenden Stapels spätestens zur Hälfte hin um hundertachtzig Grad verdreht; aber wer liest schon so viel? Ungezügelte Personen, die es folglich auch mit dem Stapelbau nicht so genau nehmen werden. Ihre Schande, aber wir greifen vor, ist morgens vor ihrer Tür abzulesen), um schlußendlich, gemäß Teil eins und zwei, aber unter gröblicher Mißachtung von § 3 der Befehlsausgabe Papier gebündelt und verschnürt am Sammeltag vor 7 Uhr am Straßenrand bereitstellen unter Einsatz des in allen Supermärkten erhältlichen Recyklingspagats (bunt) ordnungsgemäß zu verschnüren sowie häufig, soweit verlottern die Sitten selbst hier, bereits am Vorabend vors Haus zu stellen.
So landete dann auch das Buch der Tatjana Wpunkt am Trottoir. Verschnürt und verfrüht. (Zudem völlig unberechtigterweise. In den Vorschriften war nur von Zeitungen, Zeitschriften und Couverts die Rede. Wahr ist aber auch, daß nur Windeln und ähnliches ausdrücklich verboten, und Bücher, was ist das?, unerwähnt.)
Das Buch der Tatjana Wpunkt war eines aus der Reihe Tiergeschichten für Backfische, Tatjana Wpunkt dem Alter aber wohl schon entwachsen, was allerdings nicht überprüft wurde. Obwohl es möglich gewesen wäre. Tatjana Wpunkt hatte nämlich Vornamen Namen Adresse Handynummer auf die drei beschreibbaren Schnittseiten ihres Buches gemalt. Groß und schwarz. So daß nun, da das Buch schreiend am Trottoir lag (zudem bereits abends acht statt morgens sechuhrfünfundfünfzig), man sie hätte durchaus zur Raison rufen können. Und um Erbarmen flehen für das Buch. Da aber zweiteres wohl unweigerlich wie ersteres ausgesehen hätte, unterblieb jede Anrufung. Ebenso die Selbstmitnahme resp. Befreiung des Buches, die ein Entschnüren des Paketes erfordert hätte, was, auch ohne Kenntnis der entsprechenden Paragraphen, alles Setzung eines ungesetzlichen Aktes zu unterlassen war.
Eine Aporie. In der einzig der Titel einer frühen Gedichtsammlung des Adolf Endler Trost zu spenden vermochte. Und also flugs dem armen Buch zugeraunt zur Nacht: »Erwacht ohne Furcht«.
Es half nichts. Das Geschrei des Buches der Tatjana Wpunkt war noch die ganze Nacht über zu hören.
Tags darauf verstarb, ach!: ging von uns der Tarzan am Prenzlauer Berg, Adolf Endler, einer, der sein Leben lang hart gearbeitet, also: geschrieben hat. Und kein Buch vor die Tür gesetzt.

(Annotate. Kürzestgeschichten. 15/09/09)





Pizzini
Dreizehn Kürzestgeschichten. Für Franz Pichler.


i     Modulation in f
franzp. pfranz. fpranz. pranzf. farpzn. fanrpz. prafnz. zranpf. pranfz. prazfn. arznpf. frapzn. frapanz. pafranz.


iv     Spadolins Kunst
War er noch Regierungschef oder bereits der über Benitos Knobelbecher gestolperte Verteidigungsminister? Wenngleich: Spadolin in schmucker Paradeuniform: Das ja wohl ist Kunst am KörperBau. Er war jedenfalls. War da gewesen. Es hat aber, und es wird, nie jemals jemand erfahren. Selbigen Tages, das allerdings ist gewiß und belegt, kamen zwei Männer in die Stadt, entstiegen dem Zug, nur um umzusteigen. Und hatten festzustellen, daß kein weiterer Zug weiterführe; ob dem generellen oder einem spezielleren Durcheinander zu verdanken, Staatsstreich oder Streik oder simples Kataklisma, war weiter nicht auszumachen, gar auf die Schnelle nicht, und außerdem eh schetzko. Hatten sie doch tagsdraufs sich wieder in der Stadt einzufinden, in der sie heute ursprünglich eigentlich nichts als umzusteigen, nunmehr aber, wegen mangelnder weiterführender Möglichkeiten, zu verbleiben hatten. Es ging also, natürlicher Rückzugsort, in den Buko. Der Rest würde, war man, sich finden. Um einiges später dann, nach dem anderen Glas, fand sich zudem die Überlegung ein, man könne genausogut heutnächtens wie, eigentlich verabredet, morgenvormittagens sich ans Pissoir aufmachen, und gleich mit der Arbeit beginnen. Kunst bleibt Kunst ist Kunst. E vaffanculo. So wurde dann auch vergangen. Und als sich, am Pissoir am Fluß angekommen, darin der Spadolin vorfand, den die ihn wie seine Reise geheimhaltenden Dienste seit Stunden, wenngleich ohne Ergebnis, frenetisch suchten, der damit also auch den Honoratioren der Stadt abhanden, die an der Vittoria auf ihn gewartet, von ihm, das ja, seit Jahren allerhand gewohnt, auch Verschwinden, wenn auch, noch nie, so gänzlich und dermaßen auf Dauer: So denn dann begann die Kunst im am Pissoir früher als geplant, Dank Spadolin und Din und Don. Und dem Nachschub aus dem Buko.


v     Die Krise des Alphabets
Was ist mir, sagte er, um das Alphabet der Krise. Angesichts der Krise des Alphabets. Und schnitzte sich einen Buchstaben. Legte ihn zu den anderen. Und wußte: Im nächsten Winter dann würde er sie wieder alle, in extremis, verbrennen.


ix     Über das Steigen in der Eiswand und das Gehen am Grad

ist nichts zu sagen. Zu singen dabei aber wär:
A sera quanno 'o sole se nne trase
e dà 'a cunzegna a luna p' 'a nuttata
lle dice dinto 'a recchia - I' vaco 'a casa:
t'arraccumanno tutt' 'e nnammurate


xiv    Goldfishs siebzehnte reise um die halbe welt


Hoert sich, sagte Goldfish, nicht
dir das sich an wie ein gedicht: ?

Das rauschen da, im linken ohr
vor dem der fischarzt warnte

Das anschwoll, ab, dann wieder an
sich schlieszlich doch erbarmte
(und keiner sonst, nur dieses rauschen)
Koennt man das fuern reim eintauschen
der oehrlings dich umarmte
- schon waer das spiel getan

Des tags wars Goldfish ganz aural
Goldfish war sich buckelwal












































































































eben erschienen:

Franz Pichler.
Bildhauer.
Monographie.
Arunda 76. 2009.
186 Seiten
ISBN 978-3-7066-2456-5








Ein Blick in die Welt


verschafft ja durchaus, wenn auch nicht immer, Einblick. Und ab und an sind es die sogenannten Kleinen Dinge (die sich selbst wohl nur äußerst ungern als solche bezeichnen würden; für heut aber müssen sie es eben dulden), an denen sich das eine oder andere ablesen läßt. Ob man sich dann darauf auch einen Reim bilden kann, ist eine andere Frage. Die wäre dem Lyriker zu stellen.
Es hat irgendwann begonnen, unauffällig; in der Folge dann hat es sich peu à peu in dieser Stadt ausgebreitet wie (und hier wäre eigentlich ein Vergleich aus der Medizin am Platz, Abteilung eklige Infektionen, Unterabteilung: Zweitsemester erschrecken bzw. aktuelle deutsche Bestsellerlisten, wir lassen den Vergleich aber an seinem Platz und sagen lieber:) ausgebreitet wie ein Ölfleck.
Nun ist allein die Anzahl der Frisörläden, die es in dieser Stadt gibt, verwunderlich. Und ist einem das erst einmal ins Auge gestochen, notiert man, durch die Stadt wandernd, mit und addiert es sich auf. Sieht, im Vorübergehn, hinein und stellt fest: Da sitzen tatsächlich auch welche, immer.
Unsereins kannte das noch anders, vom Dorffrisör. Der war im Schwarzen Adler abzuholen. Und falls man zu jung dazu war, hatte man eben in seinem Laden auf seine Rückkunft zu warten. Konnte dauern. Man hätte, angesichts des leicht erregbaren Meisters Schnittechnik am jugendlichen Kopf - einmal über die Welt schimpfend quer drüber mit der Maschine - sich in der Schwarzadlerzeit auch ruhig selbst echauffieren sowie coiffieren können, dann aufkehren, das Geld abgezählt hinlegen, und gehen. Tat man aber nicht.
Seither hat man ein Auge aufs Gewerbe. Und stellt fest: Sie werden von Tag zu Tag vorwitziger, diese Frisöre. Und heißen etwa nicht mehr Salon Susi oder Coiffeur Charlie, sondern (und sowas kann man sich auf einem mittellangen Spaziergang durch die Stadt einsammeln): Spitzenbetrieb. Hauptsache. Schnittpunkt. Methaarmorphosen. Kopfgeldjäger. Kaiserschnitt. Freischneiderloge. Aufschnitt. Zuschnitt. Scherenschnitt. Kopfsache. ChicSaal. Fairschnitt. Haarmonie. Haarlekin. Hairgerichtet. Haar und Zimmermann. Wellkamm.
Für Wortspielereien, hatte man eigentlich gedacht, sei der Dichter zuständig. Und hoffentlich glücklicher darin.
Dann aber rief gestern ein Bekannter an: Sein Freund mache sich jetzt dann doch, endlich durchgerungen, gerade in Zeiten wie diesen, also: selbstständig. Geschäftslokal ist ins Auge gefaßt, Finanzierung dank einer Erbtante klar (bis auf eine kleine Bergtour in die Schweiz), fehlte nur noch: der Name. Und da habe man, du machst das doch von Berufs wegen, auch nicht immer ganz unwitzig, also, ...  Ich dachte nur: Wenn du jetzt auf einem Nein behaarst, wird dir das haarscheinlich als verhairend lächaarliche Haaroganz ausgewaschenundlegt.

(Annotate. Kürzestgeschichten. 13/03/09)









Dieser Tage also

ging ich durch ein flaches Tal, schreibt er, an einem Fluß gelegen. Und fand mich unversehens im Nebel wieder. Und da es Winter war, war plötzlich alles weißer noch als weiß. Unten, oben, linkszurseit, rechtsrüber.
Falls überhaupt etwas in der Landschaft stand, tauchte es erst im allerletzten Augenblick vor mir aus dem Weiß auf, wobei allerletzter Augenblick keine fünf Meter sind.
Ein paar dürre Bäume, beispielsweise, es war ansonsten eine eher zivilisationsferne Gegend, durch die einzig und allein eine Autobahn führte, was für sich allein genommen wohl noch kein Ausweis von zivil, aber als ein Summen vor dem Eintritt in den Nebel noch zu hören gewesen war.
Irgendwann dann, im Nachhinein meine ich: nach Ewigkeiten, die wohl keine vierzig Schritte lang gedauert haben können, standen drei schlanke Holzstümpfe vor mir auf (oder waren es zwei, vier?), gewissermaßen bis zu den Knien versunken im Schnee, behangen mit Reif. Und ich wußte es mir nicht zu deuten. Sah die Überbleibsel von Galgen. Ging weiter, drehte mich um, und fand sie nicht mehr.
Und noch mehr Reif überall, allerfeinste Kristalle, die bis in den hintersten Lungenflügel zu rieseln schienen.
Dann wurde es licht. Nicht daß der Nebel sich gehoben hätte. Er strahlte. Leuchtete auf, warm, als ob man in einem orangenem Zelt plötzlich säße mitten im Gehen. Der Reif golden. Der Atem auch. Ich blieb stehen.
Da aber drehte sich die Welt und verschob sich das Licht und alles mit ihm, Schnee und Reif und Nebel und das Nichts. Ein dunkles Stahlblau stülpte sich langsam über uns, dem finstre Kälte folgte.
Halleluja!, was, um G'swillen hast du jetzt wieder angestellt. Wofür fährst du da in die Hölle?
Ich gestehe, schreibt er, daß mir genau das durch den Kopf ging. Nicht daß ich mir keiner Schuld bewußt gewesen wäre, ein paar davon trägt man immer mit sich herum, das leichte Reisegepäck eben, nur: hier, und jetzt, und so? In Nebel und Schnee und Reif und Nichts, ein sekundenschneller Weltuntergang, und gänzlich lautlos dazu auch noch?
An diesem Punkt endlich, schreibt er, kam ich wieder zu Sinnen. Denn: Keine Abfahrt in die Hölle (wohl auch keine Auffahrt in den Himmel, aber davon versteht unsereins nicht allzuviel), kein Weltuntergang, nichts davon wird je ohne: Fanfaren, Flageolette, Flügelhörner, Fagotte, was weiß ich: stattfinden. Undenkbar.
Und als ich in der folgenden Nacht fieberschweißig wach wurde, simpler Grippalinfekt, wie sich herausstellen sollte, stand mir endlich eine vernünftige Erklärung vor Augen. In Kurzfassung: Inversion, unten Nebel, drüber Sonne, vor die dann, doch, eine Wolke gezogen war. Was vorkommen soll.

(Annotate. Kürzestgeschichten. 17/01/09)









die b-protokolle / #53 / 200409



Am kaelbermarkt reiszt eine kuh
aus. sie fluechtet zuerst in die
lampenabteilung eines moebel
geschaeftes und hinterlaeszt dort
einen scherbenhaufen. dann rennt
sie, verfolgt von bauern und
polizisten, in richtung stadtrand
weiter
(Annotate. Kürzestgeschichten. 05/09/08)









Das Hirn ist

ein soziales Organ, schrieb er.
Ja, schrieb ich ihm zurück. Und eine Ricotta, so am Stück, natürlich nichts als ein redundant angebundener Zentralrechner.
Daraufhin er: ... wenn du meinst.
Und ich: Selbstverständlich. Die Geschichte mit dem Berliner Amtsgericht. Pasolinis Kreuzigung. Und der andere, der stolpernde Totò. Zum Beispiel. Drei Geschichten, die sich schneiden. Mitten in der Ricotta.
Und wie gehen sie, die Geschichten?, schrieb er.
Ein andermal, schrieb ich, verzeih. Mir ist der Hunger längst zu groß geworden. Zumal angesichts der traurigen Gewißheit, daß sich heute, auch im Umkreis einer Tagesreise, eine Ricotta, die den Namen wert ist, nicht auftreiben ließe. Wie wäre es stattdessen damit: Logarithmen, Aufgabe 20: Ein Staat mit weißer Bevölkerung gliedere sich farbige ein. Die farbige Gruppe betrage anfangs nur 0,1 vH der weißen Rasse. Welchen Hundertsatz machen die Farbigen nach 60, 120 und 180 Jahren aus, wenn die Geburtenstärke der weißen Familie 2,2 ist, die der farbigen Familie 4,8 und der Zeitabschnitt der weißen Geschlechter 30, der der farbigen Geschlechter 20 Jahre beträgt? (p bei der weißen Rasse 63, bei der farbigen 60.)
?, schrieb er zurück.
Ist auch so eine Geschichte, schrieb ich, aus der eine Geschichte werden könnt. Habe in einem Antiquariat für einen Euro ein Buch erstanden, das (oramai è troppo tardi cantare miserere, sagte Rosalia gern) zu nichts nutze schien: Rechenbuch für den Unterricht in der Wehrmacht. Zweites Heft. Arithmetik und angewandtes bürgerliches Rechnen. 1938 (August, 13 Monate vor dem Überfall auf Polen). Im Vorwort stand: Die Aufgaben nationalpolitischen Inhalts sind auf den neuen Stand gebracht worden. Am linken Vorsatzblatt  eine Signatur: Hildegard Bürger - Hagendorn, 17.X.41.
Nun, Frau Bürger - Hagedorn hatte es auch nicht leicht, und, wiewohl bereits Krieg war, ganz andere Probleme. Die durchaus auch auf die Zeugungsrate durchzuschlagen drohten. Das wissen wir, weil sich in dem Buch ein leicht stockfleckiges, liniiertes, aus einem Spiralblock gerissenes Blatt (ehemals A5, untere Hälfte unsauber händisch abgetrennt) fand. Ich transkribiere Dir treulich den Text. Die Geschichte dazu ist erst noch zu schreiben. Bis dahin ...

Liebe Hilde!
    Ich habe Dich mehrmals gebeten, etwas früher zu erscheinen, da ich nach der langen Zeitspanne einen großen Hunger habe. Ich halte das auf jeden Fall für unkameradschaftlich, aber wenn Du etwas vor hast, kannst Du es mir ja sagen, daß ich mir morgens 1 Paar Stullen mehr mitnehmen kann; und wenn Du es vorher nicht weißt, kannst Du mich doch anrufen, damit ich mir etwas Brot kaufen kann. So muß ich doch denken, Du kommst. Und wenn Du trotzdem nicht kommst, muß ich annehmen, daß Du es ungern tust.
        Dein Rudi

(Annotate. Kürzestgeschichten. 17/11/08)














































Castelfeder

Der Hügel von Castelfeder hat von jeher seine eigene Geschichte. Es ist einem, als wäre er immer schon gewesen. Was aber nicht sein kann, da er vulkanischen Ursprungs ist, was uns, jenseits aller Sagen, belegt, dass auch der Hügel von Castelfeder irgendwann einmal aus den Tiefen der Erde aufstieg, ihnen entglitt, oder, wenn man so will: lauwarm ausspuckt wurde. Weswegen der Hügel von Castelfeder und der Rote Platz (Красная Площадь, Krasnaja Ploschtschad) in Moskau auch Cousins ersten Grades sind. Aber das nur am Rande.
Wer nun auf Castelfeder steht, der wird unwillkürlich ein leises Raunen hören. Wie fernab anrollendes Meer. Und es gibt, sagt man, durchaus auch Tage, wenn auch selten, an denen man, von Castelfeder aus nach Süden blickend, plötzlich, aus Richtung der bekannten Salurner Klause, das Meer ins Land ziehen sehen kann, mehr als doppelt kirchturmhoch, aber ansonsten recht friedlich. Es sollen, geht die Sage, sich an solchen Tagen immer wieder einige von Castelfeder aus jauchzend in die salzigen Fluten gestürzt haben; nur, um am nächsten Tag mit nassen Kleidern und wunden Knien vor ihrer Hofstatt aufgewacht zu sein. Müde, aber fröhlich, in ihrem Erinnern. In den umliegenden Dörfern nannte man sie verächtlich Die springenden Feltine von Fastelceder (was wohl eine Verballhornung sein mag.)
Wenn aber wieder einmal der Etschdamm bricht und Millionen von apfeltragenden Dingern unter Wasser stehen, die in frühen Sagen noch Bäume genannt wurden, die reinsten Fabelwesen, von denen man sich erzählt, sie seien damals so hoch gewachsen wie ein Haus und man hätte ihnen mit einer einfüßigen Leiter, der sogenannten 27er-Loan, zu Leibe rücken müssen, wenn also wieder einmal der Etschdamm bricht, dann leuchtet nächtens auf Castelfeder ein Licht auf und flackert übers Tal. Und Apfelseelen steigen aus dem Wasser, fliegen ein paar Runden und lassen sich dann auf den Steinen der Burgruine auf Castelfeder nieder, um sich zu unterhalten.
An ganz besonderen Tagen aber, wenn an Sommerabenden lau der Wind vom Berg herunterfällt, ist ein Saxophon zu hören. Und man sagt, es handle sich um einen einsamen, bis auf den Tod liebeskranken Saxophonisten, der im Tunnel der aufgelassenen k. u .k. Fleimstaler Bahn seine letzten Lieder spielt, einmal und noch einmal. Wissen kann man das nicht. Es war noch keiner da, um das zu überprüfen. Und falls einer da war, kam er nicht mehr zurück. Oder hat, zurückgekommen, geschwiegen über das, was er gesehen hat. Wieso auch immer.
Um den seit jeher auf der Burgruine von Castelfeder hausenden Baron von Caldiff rankt sich übrigens eine ganze Reihe von Sagen, die aber bereits anderenorts wirkungsvoll erzählt wurde. Hinzugefügt sei nur diese hier:
Dem Baron von Caldiff war eines Tages sehr langweilig, langweiliger noch als an gemeinen christlichen Feiertagen. Er trat vor seine Ruine, besah sich den Talboden unter ihm, den Himmel über ihm, sowie sein nicht mehr gänzlich blütenweißes Hemd. Da unten grün, da oben blau, und an mir alles grau, sagte er, das kann nicht sein, das ist nicht fein. Erhob den Arm, Hagelwolken zogen gewittrig auf, es rauschte, es krachte, der Himmel wurde graubraun, der Talboden braungrau. Und das Hemd blütenweiß. Wohlauf, sagte da der Baron von Castelfeder, jetzt kann’s zum Tanze gehn. Und zog los.
(...)

(war eine Auftragsarbeit. Zu haben unter ISBN 9783852564555)

(Annotate. Kürzestgeschichten. 05/09/08)