kurt lanthaler
fanes.textverarbeitende manufactur





Bücher

Annotate
AkuteZustaende
Das Δ des Deltas
Dei cannoli. Del Tschenett
Gedichtenǂwerfen
Kürzestgeschichten
Ochsenschwanz.Sachbuch
Passagen
UeberSetzen.TraDurre

Goldfishs Reisen
Übersetzungen
Theater, Oper, Hörspiel, Film
Installationen, Bilder, Objekte

italiano
ladin
ελληνικά

dansk
english


BioBibliographie
Termine / Lesungen
Index / Impressum



rss 



mail
Stand 29.11.2011

Annotate
aus der Schreibstube
Passagen. Roman in Arbeit.
»Annotate dient der komfortablen und effizienten, semi-automatischen Annotation von Korpusdaten.
Es unterstützt die Erstellung kontextfreier Strukturen und erlaubt dabei zusätzlich kreuzende Kanten. Die terminalen Knoten, nichtterminalen Knoten und die Kanten werden etikettiert. Die Anzahl und Art der Kategorien ist frei definierbar. Annotierte Korpora werden in einer relationalen Datenbank abgelegt. Annotate ist mit einem Interface zur Interaktion mit externen Parsern ausgestattet.«


Was hiervon einmal Buch werden sollte, verschwände. Dorthin.



Partono i bastimenti. Passagen.



Gerne komme ich Ihrer Einladung nach. Würde Sie aber bitten wollen, den von Ihnen gebuchten Flug Malpensa – Buenos Aires zu stornieren und mir eine Überfahrt zu Wasser zu reservieren, etwa ab Genova oder Napoli; gerne auch eine Klasse niedriger als im Fluge. Zeit erübrige ich. Gilt auch für die Rückreise im Herbst.

(P.S.: Meine vielleicht doch etwas gestelzte Schreibe, die Sie sicher bereits annotiert haben, hat Gründe, die Ihnen geläufig sein werden: Es schlägt die inzwischen ja über vier Jahre andauernde Beschäftigung mit dem Gegenstand langsam auf mein eigenes Befinden durch. Anders aber als ausschließlich könnte ich eine solche Arbeit nicht angehen. Man mag darin eine gewisse Einfalt erkennen.)


Jetzt, wo ich an Deck sitze und den italienischen Sommer dieses ansonsten alles andere als freundlichen Jahres 04 hinter mir lasse, ein italienischer Sommer, der dieses Jahr besonders sommrig war – und um meine Olivenbäume war mir, das nur nebenbei, weil es das Eigentliche ist, um meine Olivenbäume war mir, nachdem sie vor zwei Jahren den Winter nur dezimiert überstanden, ehrlich angst und bange – jetzt notiere ich mir diese Zeilen, im Vorgriff auf unsere Zusammenarbeit; leid ist mir nur darum, daß ich Sie ihnen aus Gründen der Bequemlichkeit aus dem bordeigenen Internet-Cafe schicken werde, anstatt als überseeisches Funktelegramm.


Ansonsten ist mir wohl. Wenn ich bedenke, wieviele Zeugnisse von Seekrankheit ich in den letzten Jahren gesammelt habe neben all dem anderen, sicherlich wichtigerem, und welche Varianten sich mir da auftaten … und selbst graut mir einzig vor den maßlos kitschigen und gastronomisch vollkommen unergiebigen Banketten an Bord dieses verdammten Traumschiffes, das so gar nichts mit unserem Gegenstand zu tun hat. (Was kein Vorwurf an Sie ist: die wenigen Plätze auf Frachtern, ich weiß das, sind zuallererst ausgebucht. Zu Ruhe wie zu Geld gekommene herzleidende Seeleute. Und die üblichen Schriftsteller auf der Suche nach dem Aufhänger fürs Modemagazin. By the way, was ist aus dem Roman geworden? So als solchem?)
   Übrigens fragte ich mich bereits bei der Einschiffung, ob ich nicht an der Kante meines Arbeitstisches näher an die vergeblichen Schiffsreisen, von denen wir zu reden haben werden, kommen würde als an der Reeling dieses seelenlosen Ungetüms. (Und vorhin fragte man mich höflich an, ob ich die empfohlenen Trinkgelder von USD 10 per die von meinem Bordkonto abbuchen lassen möchte. Tsss.) Sie sehen, recht eigentlich haben Sie mir, trotz der Umstände, die Ihnen damit verbunden waren, mit der Umbuchung von Flugzeug auf Schiff keinen sonderlichen Genußgewinn verschafft; andererseits war die Sache aus der Sache heraus alternativlos, was Sie sicher begriffen haben.
   Kurz noch zum Eigentlichen, dann sei’s genug für heute: Ich habe mir eben noch einmal die infrage kommenden Grundrisse angesehen, und bin prompt etwas bedenklich geworden.
   Ein paar hundert Quadratmeter mehr könnten uns wirklich nicht schaden. Geben Sie ihrem engen Impresarioherzen einen Stoß und lassen Sie uns weiter, weitläufiger, und, wenn Sie so wollen: überseeischer werden. Es muß die unerbärmliche, seelenlose Weite des Meeres zu spüren zu sein. Des Meeres, das sie hin und her überquert haben in den Jahrzehnten, ohne jemals die Wahl gehabt zu haben. Des Meeres, das nicht einmal der Weg war, geschweige denn das Ziel. Des Meeres, das Arbeit, nicht Urlaub. Also (ich bin erpresserisch geworden genug in all der Larmoyanz, zu der Sie mich, wie Sie sehen, gezwungen haben) also geben Sie uns die Weite und geben Sie uns die Leere. Sind ja bloß ein paar hundert Quadratmeter mehr.




Damals, als ich mit meinen Eltern in Genova auf das Schiff nach Südamerika ging, damals, 1907, als Vater beschlossen hatte, nun sei es genug mit dem Gewürge und Gewuste, und es sei genug mit diesem Land, das weder ihn noch seine Frau noch seinen Sohn ernähren konnte, an dem schon schlimm genug war, daß er der einzige und noch dazu ein Schwächling war, und es sei, hatte mein Vater beschlossen, vor allem genug damit, sich für sein spaghettidünnes Kind schämen zu müssen, nur weil man ihm nicht regelmäßig Spaghetti auf den Tisch stellen ...
   Mein Vater konnte, einmal in Wut geraten, nicht mehr aufhören mit seinem halblauten Lamento, und zu Zeiten, als er noch Schuster war, hämmerte er im Takt der Worte auf das Leder ein, wenn man Leder weich bekommt, muß man doch dieses verdammte Leben auch weich bekommen, bevor einem die Sohle zum letzten Mal löchrig geworden ist, eine ewige Litanei, die meines Vaters, während meine Mutter, um die Tränen zurückzuhalten, sich in den Rosengranz vergrub, Avemaria undsoweiter, dabei fluchte sie sonst, wenn ihr gerade nicht nach Weinen war, auf das Gebete, aber mir ist lieber, das Kind wächst mit einer betenden Mutter auf als mit einer weinenden, worauf Vater nur den Kopf geschüttelt hat, Blödsinn, ma che vai dicendo, was redest du da, Frau. Ich red weniger als du, Mann, sagte sie dann, du führst die ganze Zeit deine Litanei im Mund, ein ewiges Gebißwackeln und Lamentieren, noch sind wir nicht verhungert, Mann, also laß es gut sein und laß mich weinen, wenn ich muß.
    Wenn sie ihre vier Mauern verließen, waren sie stolze Leute. Kein Lamento über Vaters Lippen, kein Rosenkranz über Mutters, nicht einmal, als ihnen auf dem Schiff übel wurde, irgendwo im Ozean, wir hatten seit Tagen keinen Himmel mehr zu sehen bekommen in den wenigen Minuten, die man uns an Deck ließ, um Luft zu holen, ich weiß nichts davon, ich war Säugling, ein schönes Kind, erzählt meine Mutter, wir haben dich so eingewickelt, daß kaum mehr deine Nasenspitze zu sehen war, und trotzdem sagten alle, was für ein schönes Kind, während ich dich so fest als möglich hielt und dein Vater mich, der Ozean stürmte dermaßen, daß nichts zu sehen war außer Wasser in der Luft, und die Frischluft, wegen der wir uns aus dem Unterdeck hochgekämpft hatten über die taumelnden Stiegen, das Kind braucht ein paar Mäuler Frischluft, Sonne bräuchte es auch, aber wo ist hier Sonne, da war in Genua noch mehr Sonne, wer weiß, was sie uns von diesem Amerika alles erzählt haben, wer weiß, ob’s wahr ist, die Luft an Deck jedenfalls ließ sich kaum atmen, so voller Wasser war sie, wir fürchteten, du ertrinkst uns und sind jedesmal nach wenigen Augenblicken wieder unter Deck geflüchtet, naß und klamm, und wenn man nicht gerade mit den taumelnden Eisentaufgängen zu kämpfen hatte, dann mit einem taumelnden Magen, hätte ich dich nicht stillen müssen, ich hätte gar nichts mehr gegessen, deinem Vater ging’s noch schlechter als mir, grün im Gesicht und blau wie frischgegerbtes Leder, er hatte gleich am ersten Tag an Bord seine Schuhflickerdienste angeboten, und bei Gott, es waren genug Schuhe an Bord, die es nötig gehabt hätten, ihr könnt doch nicht, als Schuster ist man Geschäftsmann, und dein Vater war ein guter Geschäftmann und ein guter Schuster, nur die Zeiten, die waren nicht so gut, ihr könnt doch nicht mit solchen verlotterten Schuhen ein neues Leben beginnen, und ihr wollt in dem Amerika ja ein neues Leben beginnen, oder? also gönnt auch euren Schuhen ein neues Leben, oder wenigstens einen kleinen Flicken und noch während dein Vater über seinem ersten Schuh saß, den er liebevoll mein amerikanischer Schuh nannte, der im Glück bringen sollte und den er deswegen, genauso wie seinen Paarzwilling, gratis flicken wollte, was er auch sofort getan hätte mit seinen flinken Schuhmacherhänden, wenn ihm nicht bereits über diesem ersten Schuh schlecht geworden wäre von der See, buchstäblich in den Schuh hinein, und die folgenden Tage war’s nicht anders, auch wenn er inzwischen gewarnt war und den Kübel rechtzeitig fand, aber, sagt Vater, bei allem was recht ist, ich habe diesen Schuh geputzt und ich habe diesen Schuh und den anderen, ich habe dieses Paar zu Ende gearbeitet, es hat länger gedauert als üblich, ja, aber das war nicht weiter wichtig, erstens lag der Schuhträger selbst auch krank flach und brauchte also momentan gar keine Schuhe und konnte sie so schonen für ihren amerikanischen Weg und zweitens war der arme Teufel, dem meine Rede an die Landsleute doch ziemlich in die Knochen gefahren war, weil er sie ernst genommen hatte, obwohl es nichts als eine Reklamerede für mein Schuhmachergeschäft war, das auf diesem Schiff im besten Falle im Schuheflicken bestehen konnte, der arme Teufel war heilfroh, weil er so umsonst an sozusagen neue Schuhe gekommen war, jedenfalls an die besten, die er je besessen hatte, oder sagen wir: seit langem, ich habe an nichts gespart bei diesen Schuhen, schließlich sollten sie mir Glück bringen, und daß sie mich so viel Zeit gekostet haben wegen der verdammten See, nahm ich als zusätzlichen Glückswink, sie würden mir eben lange Glück bringen, meine ersten amerikanischen, dem Magen und dem Meer abgetrotzten Schuhe, sollen sie Ihnen und Ihrer Frau und Ihrem wunderhübschen Kind vor allem viel Glück bringen, sagte der arme Teufel, als er seine Schuhe wieder in die Hand nahm, wenn sie Ihnen Glück bringen, werden sie mir auch Glück bringen, er hat diese Schuhe dann bis zu der Stunde, als der Hafen von Buenos Aires endlich in der Morgendämmerung vor uns auftauchte, um den Hals getragen, und wann immer und wo immer ihnen Gefahr drohen konnte, durch Mitmenschen und Meereswogen, sie unter seiner Jacke versteckt und die Arme um sie geschlungen, und jetzt wollen wir mal sehen, sagte mein Vater, da war ich vielleicht sieben Jahre alt, jetzt wollen wir mal sehen, wie lange uns diese Schuhe noch Glück bringen werden in diesem neuen Land, bis jetzt kann ich mich nicht beklagen, auch wenn du den ganzen Tag nur zu klagen hast, wenigstens so lange du über deinen Schuhen sitzt, das ist etwas anderes, Frau, sagte Vater, so über einen Schuh gebeugt arbeitet es sich besser, wenn man dabei etwas zu sagen hat, und was soll ich sonst sagen, außer, daß es das Leben mit uns schon noch ein klein wenig besser meinen könnte, wir sind nicht verhungert, sicher, aber satt geworden sind wir auch nicht in diesem Amerika, oder?


Heute darf ich Sie, und daran erkennen Sie unschwer, daß ich übel gelaunt bin, darf ich Sie noch einmal an unseren Vertrag und die in § 13 Ziffer 2 vorgesehene Konventionalstrafe von 50.000 USD erinnern; und was ein Dollar in Ihrem wie unserem wiedereinmal kollabierenden Argentinien wert ist, wissen Sie ja genau so gut wie ich. Überhaupt ist mir, als wären wir Italiener es gewesen, die bei unseren diversen Einwanderungswellen in den letzten hundertfünfzig Jahren ein ansonsten vollkommen normales Land erst zu dem gemacht haben, was es seither ist. Ein hysterischer Haufen aus Wirtschaftskrisen, Hyperinflation, gnadenloser Selbstverliebtheit, Militärputsch und Lupara-Logik, natürlich zu verrechnen mit unserem Beitrag zur Harmonik des Tango, diesem Exportartikel Nummer eins in die Volkshochschulen des Norte, nichts als dramatisch still stolpernde Rache.
   (Und daß gestern, wie ich lese, zwei Schwerverbrecher anstandslos durch das Hauptportal des Departamento Central de Policia flüchten konnten, ungestört an den Marmorsäulen vorbei, an die ich mich von meinem letzten Aufenthalt her noch gut erinnern kann, ebensogut wie an die überall herumstehenden Polizeiknüppel: da fühlt man sich doch gleich wie zuhause.)
    Warum ich übler Laune bin? Wenn Sie wüßten, was dieses germanische Pensionärstouristenpack sich frühmorgens für Musik auflegt in der Nebenkabine … Diesen Nationalgenius. Dazu fällt mir günstigsterweise nur mehr ein: Tutto il mondo è burla. Falstaff. Schlußfuge. Verdi.
   Darf ich Sie also, um für heute zum Schluß zu kommen, erinnern: Sollte im Zusammenhang mit unserer Arbeit irgendwie und wie auch immer nur der Hauch einer Andeutung auftauchen, die erzählten Leben hätten irgendwas mit dem meinen zu tun, ob genealogisch oder sonstwie, sind Sie fällig. Sie und die USD. Ich habe meinen halbfürstlichen Namen nicht deswegen vor knapp vierzig Jahren abgelegt, um ihn jetzt in La Nacion zu lesen.



Großvater, mit dem ich, wie mit allen anderen Vorfahren, NICHT verwandt bin, bitte erinnern Sie sich daran, Großvater machte den Weg gleich dreimal in seinem Leben. Damit hält er den Familienrekord, ist aber nicht untypisch für seine Zeit.
   Man stelle sich vor: je nach einem knappen Dutzend Jahren blüht einem auf der je anderen Seite des großen Sees die Fata Morgana des besseren Lebens, El Sur wie Mezziogiorno, egal, jedesmal ein neuer Versuch, ein neuer Anlauf aus dem Nichts. Daß man darüber nicht sonderlich alt wird, leuchtet ein.

   Aber dieser Großvater hat genügend Nachkommen hinterlassen, diesseits wie jenseits des Atlantiks, um die Reisewelle nicht abebben zu lassen. War alles dabei: Maurer, Schuster, Taschenfuchser, Akrobaten, Konditoren, Hungerleider die meisten, und irgendwann der Balltreter, die Tänzerin und der Märchenerzähler. Zwei von diesen dreien sind am Messer gestorben (dazu bringe ich übrigens zwei großformatige Exponate mit, Sie werden begeistert sein, und, hoffe ich, erschrecken).

   So gesehen haben die Schwarzen der Sociedad 6 de Enero Recht, wenn Sie (im Jahre 1876) singen: Napolitanos usurpadores / Que todo oficio quitan al pobre. Da haben die armen Zugewanderten den ärmeren Eingeborenen massiv in den Brotsack gelangt. So gesehen ist das das Lied des Südens.

   Ich habe die Noten dabei, vielleicht singen wir es ja, irgendwann, spät nachts, und plündern Ihren vorzüglichen Weinkeller. (Die von Ihnen erheischten luganeghe sind sicher und kühl verstaut, en masse, irgendwo im Bauch des Schiffes. Ich habe mir, tapfer tapfer und längst schon bereut, nur zwei beiseite gelegt zum eigenen Gebrauch.)


(Annotate. Passagen. Roman in Arbeit)











































































Vernatsch. Passagen.


Ich schreibe Ihnen, lieber Freund, heute nicht wie verabredet aus Torino; befürchten Sie nicht das Schlimmste, aber gehen Sie beruhigt vom Ärgsten aus.
   Nach den vielen Wochen, die wir gemeinsam in der Boca Buenos Aires' verbracht haben, vergraben in unsere Archive und die Erinnerungen anderer, war es mir, wie ich gern gestehe, vollkommen entfallen: daß in Torino demnächst etwas ausbrechen wird, was sich Olympische Winterspiele nennt.
   (Als ob Winter allein nicht schon schlimm genug wäre für unsere Knochen. Dann auch noch Spiele. Wenns denn wirklich Spiele wären, würden unsere beiden kindischen Hirne unter Umständen noch etwas damit anfangen können, aber so ...)

   Und also entstieg ich in Torino nichts ahnend dem Flugzeug. Und war sofort auf dem Stand der Dinge. Flüchtete in meine Wohnung. Vergrub mich. Und hatte, keine vierundzwanzig Stunden später, begriffen, daß kein Entrinnen war.

   Ich war schon so tief gesunken gewesen, daß ich mir sogar mein Essen in die Wohnung bringen hatte lassen. Aus dem Restaurant meines Vertrauens, vom Koch meiner langen Nächte, einem verläßlichem Freund. Und dann zeichneten sich farbige Ringe auf der Verpackung ab.
   Sekunden später hing ich am Telefon und flehte meinen Reiseagenten an, mir bei der Flucht behilflich zu sein. Er buchte einen Flug nach Helsinki. In den dortigen Archiven vermuten wir ja noch einiges. Ich warf also ein paar Socken in den noch nicht zur Gänze ausgepackten Koffer, holte meinen dicksten Mantel aus dem Schrank, setzte mich in ein Taxi, schloß die Augen und machte mich auf die Reise.
   Beim Umstieg in Verona holte mich mein Schicksal ein: Zwischen dem einen Flug und dem anderen war anscheinend Nebel aufgezogen, der Flughafen geschlossen worden. Die umliegenden Flughäfen ebenso. Venezia, Milano, München, Zürich: kein Entrinnen. Selbst Innsbruck, eine Stadt, von der ich bis dato nicht wußte, daß es sie gibt, und noch viel weniger, daß sie über einen Flugplatz verfügt, vermeldete Nebelsperre. Als ich dann erfuhr, daß Innsbruck sogar zweimal Olympische Winterspiele ausgerichtet hatte, war ich allerdings mehr als froh um die atmosphärischen Störungen. (Erst habe ich angerichtet geschrieben. Wär wohl zutreffender.)
   Ich bin aber, wie Sie nur allzu gut wissen, mit meiner Arbeit schon mehr als in Verzug. Und kann also wegen einer Sache, für die die Alten Griechen sich schamgebeugt in den Olivenhain zurückgezogen hätten, um Wein mit Wasser zu mischen, wegen einer solchen Winterolympiade kann ich nicht einfach unsere mehrjährigen Bemühungen hinschmeißen, auch nicht zwischenzeitlich. (Und schon gar nicht für zwei oder fünf Tage oder wie lange so etwas eben andauert. Mit meinen eigenen Arbeitsstillständen kann ich inzwischen umgehen. Aber sowas ...)

Da saß ich. Verona Valerio Catullo. Stöberte in meinen Erinnerungen, blätterte in meinen Notizen. Ob Cesarini nicht doch in dieser Stadt sich aufgehalten habe. Auf Durchreise aus dem Zugfenster sich gelehnt. Am Stadtrand eigenhändig einen Reifen an seinem FIAT 806 Corsa gewechselt. Mit seinem Affen die Stufen der Arena erklettert. Irgendetwas. Nichtsda.
   Und war schon am Verzweifeln, sah mich bereits anstaltlich untergebracht, als ich, auf dem Weg zu den Toilettenräumen, an einem Plakat vorbeikam. Zypressen, ein See, und: Here, where Schiava grapes grow, ...
   Ich ließ das Händewaschen, riß das Plakat von der Wand, eilte zu der jungen Dame, der ich mein Gepäck anvertraut hatte, legte das Plakat vor sie hin und verlangte nach einem Taxi, das mich da hin, da - und ich stach zeigefingerlings auf den See und die blaue Traube ein - dahin bringen sollte. Die junge Dame sah mich einen Augenblick lang an, setzte dann ihr professionellstes Gesicht auf und zuckte kaum merkbar mit der Schulter.
  
Zehn Minuten später saß ich im Taxi und dankte meinem guten Gedächtnis. (Dasselbe, das Sie schon des öfteren verflucht haben. Weil es uns, wie mein Sinn fürs Abgelegene, vom Hundertsten ins Tausendste bringt. Und unseren Cesarini-Stoff ins Unermeßliche, Hallensprengende wachsen läßt, wie Sie, nicht ohne die Übertreibung, die zu Ihrem Job gehört, sagen. Nun: Sie sind der Aufpasser. Ich bin der Spürhund. Sie sind der Geldeintreiber. Ich der Geldausgeber. Sie der Besonnene. Ich der Versonnene.)
   Also: Erinnern Sie sich an meine kleine Notiz aus dem Sommer 2004, im Zusammenhang mit der späten Margherita Sarfatti? Daß sie, als sie Mussolini verließ, als Mussolini sie verstieß, eines mitnahm auf ihrem Weg nach Argentinien, im Jahre 1938 ... (und wegen dieser Reise Milano - Zürich - Paris - Marseille - Buenos Aires waren wir ja auf sie gestoßen und hatten uns gefragt: was, wenn die Sarfatti und unser Cesarini auf dem selben Ozeandampfer? Kabine an Kabine?) Erinnern Sie sich, daß, und da bin ich mir meiner Erinnerung nicht mehr sicher, Chanel, Cocteau, Colette, wer von den dreien?, leicht verstört von einem Sarfattischen Schrankkoffer berichtet, aus dem, scheinbar schrankenlos, immer neue Flaschen eines Rotweins auftauchten, den die Sarfatti als Vernatsch oder Schiava bezeichnete.

Nun, und so war ich auf dem Weg zu ihm.
   Kam gegen Mittag in einem sonnigen Dorf an und ließ mich vom Chauffeur samt Gepäck am Dorfplatz, der hier Marktplatz genannt wird, abladen. Erst einmal ankommen. Sie kennen meine Gewohnheit: sich ins Zentrum setzen, Leute und Leben an einem vorbeiziehen lassen und dann weitersehen. So saß ich in der Sonne und trank Espresso. Den Einwohnern schien es großteils noch etwas kalt zu sein, sie verzogen sich in das gewölbte Innere der Bar, die Zum Mondschein hieß.
  
Ich meinerseits kam aus dem Nebel und konnte deswegen der Übung, im Mondschein in der Sonne zu sitzen, durchaus etwas abgewinnen. (Irgendwann dann doch Zuzug. Exilierte Raucher. Sie wissen: die neuen Gesetze. Die italienischen Parlamentswahlen demnächst. Und die Strategie der Hysterisierung.)
  
Es überkommt einen, so dasitzend, und die Welt an einem vorbei, eine Art zunehmend schläfriger Ruhe. Und gleichzeitig stellt sich eine neue Form der Aufmerksamkeit ein: fürs Periphere. Das mag daran liegen, daß man sich schnell in einem Widerspruch zur Umgebung befindet. Die tun, und man tut nichts. Die haben zu tun, und man hat nichts. Die wissen, was zu tun ist, und man ist gerade dem Nichtwissen auf der Spur. Und dem Nebensächlichen.
  
Außerdem herrschte Zwischensaison. Das Italienische ist da etwas anschaulicher und spricht von fuori stagione, schneidet uns ganz und gar ab vom Großen Touristischen Almauftrieb, verschiebt uns außerhalb, nach draußen. Zwischensaison klingt nach Zwischentief. Ein passageres Übel. Und wie Sie wissen, schätze ich solche Übergänge sehr. Passagen. Sie kennen meine (andere sagen: morbide) Hingabe an das vorläufig Verwaiste: Ich war also ganz in meinem Element. Und dann ging mir Giuseppe Ungarettis Girovago durch den Kopf. Cerco un paese innocente / Ich suche ein unschuldiges Land / Busco un país inocente. Und unschuldig war der Dorfplatz, der gerade gänzlich menschenleer war, eventuell doch. Für ein paar Sekunden. Dann gab es wieder Bewegung.
   Das Schöne an der Zwischensaison ist im übrigen auch, daß man ungekünstelte, mißtrauische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Weil man als Kunde nicht vorgesehen ist. Und also und eigentlich als Fremder nur von Amts wegen anwesend sein kann. Aber welches Amt? In welcher Absicht? Solches Mißverständnis macht uns Absichtslosen Spaß. Schon gar bei Sonnenlicht. (Erinnern Sie noch die schummrige Gasse der Boca? Da schrammten wir allerdings messerscharf vorbei.)
   Um meine Absichtslosigkeit noch etwas zu schärfen, ging ich ins Café und bestellte einen zweiten Espresso. Dabei fand sich ein nicht mehr ganz aktuelles Druckerzeugnis, Gemeindeblatt genannt, dem ich unter anderem (mehr dazu ein andermal) die amtliche Verlautbarung entnahm, es sei ein neuer Chefdorfpolizist in town und insofern nunmehr und unumkehrbar jederzeit davon auszugehen, daß Falschparkern am Dorfplatz mit rabiatesten Mitteln entgegen getreten würde, was ja bis anhin ... Und schon macht man sich Gedanken um den Vorgänger und seinen Verbleib.
   Um dem Gegenstand meiner Recherche, dem Vernatsch, genauer auf den Grund zu gehen, war es noch etwas früh.
   Ich ließ mein Gepäck zurück und ging auf Wanderschaft durch die Dorfgassen. Begutachtete die Dorfpolizisten am Eck in ihren schwarzweißen Uniformen, die, auf meinen einen Blick hin, schon ihren Block zückten, synchron. Ich wedelte mit dem meinem zurück und winkte ab. Nichts zu holen, nicht verloren, nichts gestohlen. Andermal. Und wanderte. Und sah mich um. Und las. (Das Dorf hat den berühmteren seiner Häuser Inhaltsangaben an die Wand gegeben.) This building was the birth place of the mystic Maria von Mörl. Mittelalterlicher Kern. Frühes Beispiel einer Spätrenaissancearchitektur. 1812 kam hier die stigmatisierte Mystikerin zur Welt.
   Und da erinnerte ich mich an Renato Cesarinis Zirkusvergangenheit. Und an meine eigene Herkunft. Wir Napoletaner haben ja, wie Sie wissen, eine gewisse Übung in geistlichen Zaubertricks. Ich sage nur: San Gennaro. Und: Tixotrope Gele.
   Und deswegen betrat ich, nicht ohne eine gewisse Erwartung, das Haus der Ehrwürdigen Jungfrau. Parterre. Das sich als Bar entpuppte, die ein Krokodil im Namen führt. Und als ich die Speisekarte sah, waren Stigmata wie Mysterien urplötzlich verschwunden. Stattdessen stand wenig später ein Teller mit Kasknödeln vor mir. (Was sich hinter dem eigenartigen Namen verbirgt, werde ich Ihnen bei nächster Gelegenheit in Buenos Aires vorexerzieren. Rezept, Geschmack und Textur sind gespeichert.) Also: Es schmeckte köstlich. Und ich bestellte, auf Verdacht, ein Glas Vernatsch dazu. Worauf der junge Mann, der den Laden schmeißt (es kocht seine Frau Mutter), mich leicht strafend ansah und sprach: Fernatsch. Eff. Ich machte es ihm nach. Fernatsch. Gut, sagte er, und entschwand.
   Vogel-Eff und Fenster-Vau, sagte eine Stimme vom Nebentisch her.
   Nun, Sie wissen, daß mein Deutsch nicht all zu schlecht ist. (Und das, was ich in dieser Gegend hier manchmal höre, bestärkt mich darin.) Und Sie wissen, daß ich Pädagogen wie Germanisten: verabscheue. Also werden Sie verstehen, daß ich mich tot stellte. Vergebens, allerdings. Man sitzt, zugunsten eines Klaviers, eng in diesem Lokal. Normalerweise eine mehr als korrekte Entscheidung. Für dieses Mal eine fatale.
   Fernatsch, sagte die Stimme, und Prost.
   Um Schlimmeres zu vermeiden, drehte ich mich zu ihr um. Da saß einer und aß Polenta. In Ermangelung besserer Argumente nickte ich kurz und vervollständigte meine Notizen zu den Kasknödeln.
   Was dann geschah, will ich Ihnen, um es kurz zu machen, stenographisch mitteilen: Sie notieren, sagte der Unbekannte und hob sein Notizbuch. Ich nickte. Beruf? Reisender, sagte ich. Er selbst auch, auf Durchreise, Zwischenstopp, um ein Gedicht zu schreiben. (Und Sie wissen, lieber Freund, welchen Ärger ich im Verlauf unserer Arbeit mit Schriftstellern bekommen habe. Ich sage nur: Borges. Die Spezies ist, aufs Ganze genommen, schlimmer als die vorgenannten Verabscheuungswürdigen.) Aber ich ließ mich nicht provozieren. Und sagte etwas von Stigmata. Augenblick, sagte der Schriftsteller, schob mit Geste die Polenta zur Seite und blätterte in seinem Notizbuch. Zitat: ... sollen nach dem Bericht eines Zeitgenossen die biederen Landsleute der Maria von Mörl sich immer wieder darüber gewundert haben, wie die Ekstatische bei ihrem schlechten Gesundheitszustand auch noch die Kraft aufbrachte, jeden Tag 'ihre Rolle zu spielen'. Und fügte an: Auch das geringste Gedicht noch bedarf der Recherche. Und im speziellen Fall handelt es sich um eine kleine poetische Verteidigungsschrift zugunsten der Jungfrau. Wider die Phantasielosigkeit. Und wieso sind Sie hier?

Nun, lieber Freund, wir haben uns im Verlauf der Jahre oft genug darum bemüht, vergeblich freilich, eine valide Kurzbeschreibung unseres Vorhabens zu verfassen, also sprudelte ich probehalber, und weil es in diesem Falle wirklich um nichts ging, aus mir: Angelpunkt ist ein gewisser Renato Cesarini, 1906 bis 1969, als Einjähriger samt Eltern via Genova nach Buenos Aires ausgewandert, dem Süden entkommen, im Sur gelandet, wächst in Argentinien als Schuster, dann als Zirkusakrobat, Schauboxer, Straßengaukler auf. Wird schließlich Fußballer und endlich berühmt. 1929 von Juventus Torino nach Italien geholt, tritt er mit einem Affen auf der Schulter auf, lernt sein Italienisch bei den Puffmüttern, betreibt an der Piazza Castello eine tangheria. Und schießt seine Tore immer in letzter Sekunde. In der nach ihm benannten Zona Cesarini. Schießt seine Tore in den vierdimensionalen Raum, der auch als Nachspielzeit bekannt ist. Keine Sekunde zu früh (Gegentor), keine Sekunde zu spät (Schlußpfiff). Er herrscht unangefochten über diesen schmalen Korridor zwischen Spielende und Spielaus, weiß lange vor dem Schiedsrichter, wann der rechte Augenblick ist, wann abgepfiffen wird. Er ist der Reisende in der Zona Cesarini. Und 1936 ist die Zeit gekommen, um wieder nach Buenos Aires zu ziehen. Er ist in seiner Familie bereits der dritte, der die Reise über den Ozean in beiden Richtungen mitmacht, und nach ihm kommen weitere, die vorerst letzten flüchten sich im Jahr 2000 aus dem ökonomisch zusammenbrechenden Argentinien in den reichen italienischen Norden und verschwinden sklavenarbeitend in clandestinen Fabriken. Immer auf der Suche nach dem richtigen Ort zur richtigen Zeit, dem rechten Augenblick in der Zona Cesarini. Das Ganze also wird so etwas wie eine Ausstellung zu solcher Art von Passagen.

   Und glaubte, den Schriftsteller damit ruhig gestellt zu haben. (Und war wieder einmal unglücklich ob der Ungenügsamkeit von Kurzfassungen.) Na, sagte der Schriftsteller, dann ist Kaltern ja der rechte Ort für Sie. Im eigentlichen Fußball zwar nicht, da sind die Paulser seit immer überlegen. Das ist ein Nachbarort, und insofern besonders schmerzlich. Aber es haben sich im Jahr 1990 die Deutschen hier auf die WM vorbereitet. Beckenbauer Teamchef. Dieser schwarzrotgolde Blitzschlag auf dem Trikot wie auf den Flaschen der Sonderabfüllung, von denen das Dorf das eine oder andere Exemplar noch anbetend hütet. Ein 1:0-Endspiel gegen ein Argentinien, das im Auftaktspiel 0:1 gegen Kamerun verloren hatte.
Eigentlich, sagte ich und gab deutliche Zeichen, daß das Gespräch beendet sei, eigentlich bin ich ja wegen des Vernatsches und einer gewissen Sarfatti hier. (Wenn ich nur schon vom FC Bayern reden höre! Im Hintergrund sang die Knef. Von nun an gings bergab. Das versöhnte mich wieder etwas mit der Welt. Auch so eine Stigmatisierte.)
   Sie müssen wissen, sagte der Schriftsteller, daß ich hier einmal den zweiten Platz belegt habe, in einem Riesentorlauf. Das ergibt vielleicht auch noch ein Stück Text.
   Ich stand eiligst auf.
   Und dann kam es, wie es immer kommt: Man tritt aus dem Leidenshaus der Stigmatisierten, und schon schreitet einem ein Leichenzug entgegen. Der Verblichene kraft Ehrenabordnung wohl gewesener Feuerwehrmann. Sodann Espresso im Mondschein. Letzte Sonnenstrahlen. Ich notiere: Sonnenuntergang 15.15 Uhr, 06/02/06. (Material für unsere Zahlenspiele.)
   Hotel. Die Taxifahrerin versah mich, strada facendo und auf Nachfrage, mit den unumgänglichen Details. Und so weiß ich nunmehr, wer weiß, wozu?, wohin der Sarg und woher die Friedhofsgänger, kurz, wo der Dorffriedhof, übrigens zu einem ansehnlichen Teil Schenkung der hysterischen Jungfrau. Dann bekam der Berg, hinter dem die Sonne verschwunden war, einen Namen. Und was für einen, angesichts dieser doch halbmediterranen Nordlandschaft: Lawinenspitz. Bei Gelegenheit werde ich noch zu erkunden versuchen, wann, wie, und wo denn, wenn denn, hier Lawinen abgehen sollen. Am Cerro Torre, gut. Aber aquí?

Der nächste Tag.
   Komme erst zur Dämmerzeit dazu, an Sie zu schreiben. Es zerrt einen hier jeder an den Wein und in den Keller. Nun gut, werden Sie sagen, dazu sind Sie ja, wo Sie sind. Für heute und als Summe meiner bisherigen Beobachtungen nur soviel: Das Dorf hat seine Tücken. Zum einen werden Sie unter Umständen, nächtens übern Dorfplatz schlenkernd, vermeinen, es sei des Weines doch zu viel gewesen, allzumal die Dorfplatzlaternen allesamt schräg stehen. (Sie stehen schräg, bei Tag besehen. Und also wenden Sie sich vertrauensvoll an den Architekten.) Und es wird Ihnen, auf dem Nachhauseweg bergan, die Zahl der orange beleuchtet in der Gegend stehenden Kirchtürme verdächtig hoch erscheinen, woraufhin Sie sie kurz per 0,5 multiplizieren. (Bei Tag besehen: Es sind wirklich ihrer so viele wie gezählt. Im Zweifel eher mehr, weil auf Entfernung schon mal mit einer der großen Zypressen verwechselbar. Was tut man bloß mit all den Kirchtürmen? Außer nächtliche Heimkehrer verwirren.) Und jetzt sind Sie gewarnt.

PS.: Um Madame Sarfatti und ihrem Vernatsch auf die Schliche zu kommen, werde ich wohl noch einige Tage hier bleiben müssen. Sie hören von mir.

(Annotate. Passagen. Roman in Arbeit)









Das Museum der siebenundzwanzig Minuten. Passagen



Sie können sich denken, wie groß meine Müdigkeit war an diesem Tag.

Erst die knappe Woche bei Ihnen in Buenos Aires, arbeitsamst wie immer (wann endlich wird unseren Financiers aufgehen, daß wir beide nicht nur grenzgeniale Ausstellungsmacher, sondern auch noch äußerst kostengünstige Organisatoren größerer Zusammenhänge sind, hä?), sodann die zugehörigen Nächte in der Boca samt den ewigen Spaziergängen gassauf gassab, die Sie so treffend (erinnern Sie: es dämmerte bereits leis?) als Unsere Fußnoten bezeichneten; und es lag, wie häufig in solchen Übergangszuständen, ein Geruch wie von warmer Vanille in der Luft. Dann der Rückflug; äußerst unwirkliches Gefühl dabei, als ob man in seidenpapierner Rosakutsche durch die Lüfte flöge - sollte doch eigentlich, ging es nach den Durchsagen, die uns am Gate erreichten (und unseren krisenerfahrenen Italoargentiniern offensichtlich größtes Vergnügen bereiteten) der SantAliTalia-Flieger gepfändet am Boden liegen bleiben: die Spritrechnung. Da kommt man einen Ozean später anläßlich zweier Ehrenrunden über Fiumicino dann durchaus auf dumme Gedanken. Nun gut, es ging sich aus, der Zug nach Brindisi dann auch. Die Verhandlungen dort schwieriger als erhofft, aber davon sprach ich Ihnen ja schon am Telefon. Und doch: um das delle Indie Orientali werden wir nicht herumkommen. Sodaß am Ende, obwohl noch lang nicht alles in trockenen Tüchern, man durchaus sagen konnte: Geschafft. Und geschafft wieder den Zug bestieg. Brindisi, Bologna, Bozen, Brenner. Den größten Teil der Strecke in einer Art Dämmerzustand verbracht, der wahrscheinlich einem Mediziner Angst, dem Reisenden die Staatsbahn aber erst möglich macht.
    Grau sieht es aus bei der Einfahrt in den Grenzbahnhof, und kalt. Gleich will ich mir kurz die Beine vertreten, alles weitere schreibe ich Ihnen dann später.

Kurz und gut: Ich wurde in Innsbruck aus dem Zug geholt. (Ich notiere Ihnen das jetzt in Stichworten, um für heute absehbar zu einem Ende zu kommen. Mehr dann, ausführlicher, genauer, getreuer: bei unserem nächsten Treffen. Im Gerede entwickeln sich solche verwinkelten Geschichten leichter als im Geschreibe.) In Innsbruck also aus dem Zug geholt, polizeilich, ohne weitere Angabe von Gründen. Aber durchaus rabiat. Ich kann Ihnen glaubhaft versichern (aber wie die Dinge liegen kaum beweisen) daß sich irgendwo in dem als Shoppingmall verkleideten Unterstock des Bahnhofs auch noch mindestens zwei hochmoderne Verhörzellen befinden. Ich habe sie beide besichtigt. Man rechnete mir, erfuhr ich zuguterletzt, da hatte ich das, was ich für meine Geschichte hielt, schon erzählt, den Tod eines Rennradfahrers an, freilich ohne mir erklären zu können, wozu ich den alten Mann hätte umbringen sollen.
    Er muß irgendwo bei Bozen in den Zug gestiegen sein, ich weiß es nicht genauer, ich dämmerte, wie gesagt, vor mich hin. Dann aber schob er mir den Vorderreifen seines mintgrünen Rennrades über die Füße. Ich sah auf und erblickte, unscharf noch, einen verschwitzten, gegerbten, zaunlattendünnen Mann in voller Wettkampfmontur, der gerade versuchte, seine Rennmaschine irgendwie im Abteil unterzubringen. Er sah aus wie achtzig und war wohl knappe neunzig. Wir arrangierten uns. Und dann erzählte er. War vor vier Wochen vom Parkplatz des Splendid Hotel la Torre in Mondello gestartet, zwei Wochen, bevor mit dem Mannschaftszeitfahren Palermo - Mondello, an dem er par définition kaum teilnehmen konnte, der Giro d'Italia eröffnet wurde. War dann Etappe für Etappe abgefahren, Tag um Tag an Vorsprung verlierend, am Anstieg zum Passo Fedaia hatten sie ihn überholt, auf der Abfahrt vom Paß war er von der Straße abgekommen (verbremst, sagte er) und den Felshang hinuntergestürzt; selbst nur ein paar Blessuren, der Radrahmen aber arg verzogen, was einen ganztägigen Werkstattaufenthalt notwendig machte. Weswegen er dann bei nächster Gelegenheit in den Zug gestiegen war, als ausgleichende Gerechtigkeit (die haben ihre Mechaniker ja direkt dabei, schon gar Ersatzräder) er wollte bei Varese wieder auf den Troß treffen, für die letzten Etappen, hatte dann aber beim Umsteigen den falschen Zug erwischt und war nun, wie ich ihm sagen mußte, Richtung Norden unterwegs. Da fuhren wir schon in den Brenner ein.
    Nun kenne ich diesen Grenzbahnhof noch aus alten Zeiten, denen meiner Jugend, war wöchentlich zu Gast gewesen, und es war jedes Mal, auch bei späteren, beruflichen Übergängen, dasselbe: abträglichstes Wetter, ein sogutwie ewiger Aufenthalt zur Abwicklung polizeilicher sowie zoll- und stromtechnischer Geheimrituale, und der Barista von Gleis 7 mit den flaschen-bodendicken Brillen, dem Karren und vor allem dem quer über den Bahnhof schallenden Pannini!, Chochachola, Arrranciata, Limonattta, Pannini!-Rufen. Ein Grenzstreifen wie ein verwunschenes Land, il paese delle meraviglie, e pure incantato. War einmal, war gewesen.

Und doch treiben die Klänge noch übers Gleis, als ich aus dem Zug steige. Siebenundzwanzig Minuten Aufenthalt. Zeit und Gelegenheit, dem Rennradfahrer samt Gefährt beim Aussteigen zu helfen, und eine Runde zu drehen. Füße vertreten. Kopf wachbekommen. So der Plan. So das Vorhaben.

Dann ging ich durch die Unterführung. Und es nahm der feuchtklamme Gang kein Ende, als dehnte er sich bei jedem meiner Schritte weiter aus; da überholte mich, heftig in die Pedale tretend, der Alte, und entschwand, und verschwand doch nicht gänzlich aus meinem Gesichtsfeld, als führe die Etappe heut durch einen nichtendenwollenden Tunnel, das sirrende Geräusch der Kette aber wurde immer deutlicher. Ich hielt das für eine kleine Kreislaufschwäche und wollte mich an die Unterführungswand lehnen. Die gab nach.
    Mir ist, als hörte ich Türangelquietschen zwischen den Pannini!-Rufen, stehe in einem weiteren, ebenfalls klammfeuchten Gang, sehe Schaukästen, Vitrinen der Wand entlang, in diesem lowtech-Stil, wie er zur Zeit bei Ausstellungsmachern so beliebt ist, gehe, soviel Berufsethos ist noch in mir, die Schaukästen ab, finde darinnen nichts als mich selbst, in jedem der unzähligen Kästen einer meiner Siebenundzwanzigminutenaufenthalte, fein säuberlich, aber unchronologisch gereiht, die Logik erschließt sich mir noch nicht, die Zeit läuft in blassen Zahlen bläulichdigital mit; ich im Schlafen, Rauchen, beim Imgangstehen, zeitungskaufend, caffè al banco, gar das eine arg verliebte und erregte Mal hinter der Säule am Binario tronco, samt den rundum wehenden roten Haaren: all das in leicht verlangsamten Bewegungen und in Farben wie aus Technicolorzeiten. Was nun die tatsächliche temporale Dimension arg übertreibt. (Könnte aber auch der späte DDR-ORWO-Farbton sein, dann stimmten die Relationen wenigstens zeitlich wieder.) Ich weiß, wie ich die Schaukästen so abgehe, daß ich nicht weiß, was ich da sehe. Noch bin ich an keinem Ende. An einem Anfang auch nicht.

Ich soll, sagte man mir gerade, morgen einem Richter vorgeführt werden. Papier und Bleistift überließe man mir zum Zwecke meiner Verteidigung (ansonsten alles: abgenommen); ich benutze das Schreibzeug, um Ihnen diese Geschichte, die ja durchaus in unser Thema paßt, zu notieren: Was ist mir schon um morgen, um den Richter.

Ps.: In einer der Vitrinen fand sich dann tatsächlich auch ein Rennradfahrer ein.



(Annotate. Passagen. Roman in Arbeit)