Partono i bastimenti.
Passagen.
Gerne
komme ich Ihrer Einladung nach. Würde Sie aber bitten wollen, den von
Ihnen gebuchten Flug Malpensa – Buenos Aires zu stornieren und mir eine
Überfahrt zu Wasser zu reservieren, etwa ab Genova oder Napoli; gerne
auch eine Klasse niedriger als im Fluge. Zeit erübrige ich. Gilt auch
für die Rückreise im Herbst.
(P.S.:
Meine vielleicht doch etwas gestelzte Schreibe, die Sie sicher bereits
annotiert haben, hat Gründe, die Ihnen geläufig sein werden: Es schlägt
die inzwischen ja über vier Jahre andauernde Beschäftigung mit dem
Gegenstand langsam auf mein eigenes Befinden durch. Anders aber als
ausschließlich könnte ich eine solche Arbeit nicht angehen. Man mag
darin eine gewisse Einfalt erkennen.)
Jetzt,
wo ich an Deck sitze und den italienischen Sommer dieses ansonsten
alles andere als freundlichen Jahres 04 hinter mir lasse, ein
italienischer Sommer, der dieses Jahr besonders sommrig war – und um
meine Olivenbäume war mir, das nur nebenbei, weil es das Eigentliche
ist, um meine Olivenbäume war mir, nachdem sie vor zwei Jahren den
Winter nur dezimiert überstanden, ehrlich angst und bange – jetzt
notiere ich mir diese Zeilen, im Vorgriff auf unsere Zusammenarbeit;
leid ist mir nur darum, daß ich Sie ihnen aus Gründen der
Bequemlichkeit aus dem bordeigenen Internet-Cafe schicken werde,
anstatt als überseeisches Funktelegramm.
Ansonsten
ist mir wohl. Wenn ich bedenke, wieviele Zeugnisse von Seekrankheit ich
in den letzten Jahren gesammelt habe neben all dem anderen, sicherlich
wichtigerem, und welche Varianten sich mir da auftaten … und selbst
graut mir einzig vor den maßlos kitschigen und gastronomisch vollkommen
unergiebigen Banketten an Bord dieses verdammten Traumschiffes, das so
gar nichts mit unserem Gegenstand zu tun hat. (Was kein Vorwurf an Sie
ist: die wenigen Plätze auf Frachtern, ich weiß das, sind zuallererst
ausgebucht. Zu Ruhe wie zu Geld gekommene herzleidende Seeleute. Und
die üblichen Schriftsteller auf der Suche nach dem Aufhänger fürs
Modemagazin. By the way, was ist aus dem Roman geworden? So als
solchem?)
Übrigens
fragte ich mich bereits bei der Einschiffung, ob ich nicht an der Kante
meines Arbeitstisches näher an die vergeblichen Schiffsreisen, von
denen wir zu reden haben werden, kommen würde als an der Reeling dieses
seelenlosen Ungetüms. (Und vorhin fragte man mich höflich an, ob ich
die empfohlenen Trinkgelder von USD 10 per die von meinem Bordkonto
abbuchen lassen möchte. Tsss.) Sie sehen, recht eigentlich haben Sie
mir, trotz der Umstände, die Ihnen damit verbunden waren, mit der
Umbuchung von Flugzeug auf Schiff keinen sonderlichen Genußgewinn
verschafft; andererseits war die Sache aus der Sache heraus
alternativlos, was Sie sicher begriffen haben.
Kurz
noch zum Eigentlichen, dann sei’s genug für heute: Ich habe mir eben
noch einmal die infrage kommenden Grundrisse angesehen, und bin prompt
etwas bedenklich geworden.
Ein paar hundert Quadratmeter mehr könnten
uns wirklich nicht schaden. Geben Sie ihrem engen Impresarioherzen
einen Stoß und lassen Sie uns weiter, weitläufiger, und, wenn Sie so
wollen: überseeischer werden. Es muß die unerbärmliche, seelenlose
Weite des Meeres zu spüren zu sein. Des Meeres, das sie hin und her
überquert haben in den Jahrzehnten, ohne jemals die Wahl gehabt zu
haben. Des Meeres, das nicht einmal der Weg war, geschweige denn das
Ziel. Des Meeres, das Arbeit, nicht Urlaub. Also (ich bin erpresserisch
geworden genug in all der Larmoyanz, zu der Sie mich, wie Sie sehen,
gezwungen haben) also geben Sie uns die Weite und geben Sie uns die
Leere. Sind ja bloß ein paar hundert Quadratmeter mehr.
Damals,
als ich mit meinen Eltern in Genova auf das Schiff nach Südamerika
ging, damals, 1907, als Vater beschlossen hatte, nun sei es genug mit
dem Gewürge und Gewuste, und es sei genug mit diesem Land, das weder
ihn noch seine Frau noch seinen Sohn ernähren konnte, an dem schon
schlimm genug war, daß er der einzige und noch dazu ein Schwächling
war, und es sei, hatte mein Vater beschlossen, vor allem genug damit,
sich für sein spaghettidünnes Kind schämen zu müssen, nur weil man ihm
nicht regelmäßig Spaghetti auf den Tisch stellen ...
Mein Vater konnte,
einmal in Wut geraten, nicht mehr aufhören mit seinem halblauten
Lamento, und zu Zeiten, als er noch Schuster war, hämmerte er im Takt
der Worte auf das Leder ein, wenn man Leder weich bekommt, muß man doch
dieses verdammte Leben auch weich bekommen, bevor einem die Sohle zum
letzten Mal löchrig geworden ist, eine ewige Litanei, die meines
Vaters, während meine Mutter, um die Tränen zurückzuhalten, sich in den
Rosengranz vergrub, Avemaria undsoweiter, dabei fluchte sie sonst, wenn
ihr gerade nicht nach Weinen war, auf das Gebete, aber mir ist lieber,
das Kind wächst mit einer betenden Mutter auf als mit einer weinenden,
worauf Vater nur den Kopf geschüttelt hat, Blödsinn, ma che vai
dicendo, was redest du da, Frau. Ich red weniger als du, Mann, sagte
sie dann, du führst die ganze Zeit deine Litanei im Mund, ein ewiges
Gebißwackeln und Lamentieren, noch sind wir nicht verhungert, Mann,
also laß es gut sein und laß mich weinen, wenn ich muß.
Wenn sie ihre
vier Mauern verließen, waren sie stolze Leute. Kein Lamento über Vaters
Lippen, kein Rosenkranz über Mutters, nicht einmal, als ihnen auf dem
Schiff übel wurde, irgendwo im Ozean, wir hatten seit Tagen keinen
Himmel mehr zu sehen bekommen in den wenigen Minuten, die man uns an
Deck ließ, um Luft zu holen, ich weiß nichts davon, ich war Säugling,
ein schönes Kind, erzählt meine Mutter, wir haben dich so eingewickelt,
daß kaum mehr deine Nasenspitze zu sehen war, und trotzdem sagten alle,
was für ein schönes Kind, während ich dich so fest als möglich hielt
und dein Vater mich, der Ozean stürmte dermaßen, daß nichts zu sehen
war außer Wasser in der Luft, und die Frischluft, wegen der wir uns aus
dem Unterdeck hochgekämpft hatten über die taumelnden Stiegen, das Kind
braucht ein paar Mäuler Frischluft, Sonne bräuchte es auch, aber wo ist
hier Sonne, da war in Genua noch mehr Sonne, wer weiß, was sie uns von
diesem Amerika alles erzählt haben, wer weiß, ob’s wahr ist, die Luft
an Deck jedenfalls ließ sich kaum atmen, so voller Wasser war sie, wir
fürchteten, du ertrinkst uns und sind jedesmal nach wenigen
Augenblicken wieder unter Deck geflüchtet, naß und klamm, und wenn man
nicht gerade mit den taumelnden Eisentaufgängen zu kämpfen hatte, dann
mit einem taumelnden Magen, hätte ich dich nicht stillen müssen, ich
hätte gar nichts mehr gegessen, deinem Vater ging’s noch schlechter als
mir, grün im Gesicht und blau wie frischgegerbtes Leder, er hatte
gleich am ersten Tag an Bord seine Schuhflickerdienste angeboten, und
bei Gott, es waren genug Schuhe an Bord, die es nötig gehabt hätten,
ihr könnt doch nicht, als Schuster ist man Geschäftsmann, und dein
Vater war ein guter Geschäftmann und ein guter Schuster, nur die
Zeiten, die waren nicht so gut, ihr könnt doch nicht mit solchen
verlotterten Schuhen ein neues Leben beginnen, und ihr wollt in dem
Amerika ja ein neues Leben beginnen, oder? also gönnt auch euren
Schuhen ein neues Leben, oder wenigstens einen kleinen Flicken und
noch während dein Vater über seinem ersten Schuh saß, den er liebevoll
mein amerikanischer Schuh nannte, der im Glück bringen sollte und den
er deswegen, genauso wie seinen Paarzwilling, gratis flicken wollte,
was er auch sofort getan hätte mit seinen flinken Schuhmacherhänden,
wenn ihm nicht bereits über diesem ersten Schuh schlecht geworden wäre
von der See, buchstäblich in den Schuh hinein, und die folgenden Tage
war’s nicht anders, auch wenn er inzwischen gewarnt war und den Kübel
rechtzeitig fand, aber, sagt Vater, bei allem was recht ist, ich habe
diesen Schuh geputzt und ich habe diesen Schuh und den anderen, ich
habe dieses Paar zu Ende gearbeitet, es hat länger gedauert als üblich,
ja, aber das war nicht weiter wichtig, erstens lag der Schuhträger
selbst auch krank flach und brauchte also momentan gar keine Schuhe und
konnte sie so schonen für ihren amerikanischen Weg und zweitens war der
arme Teufel, dem meine Rede an die Landsleute doch ziemlich in die
Knochen gefahren war, weil er sie ernst genommen hatte, obwohl es
nichts als eine Reklamerede für mein Schuhmachergeschäft war, das auf
diesem Schiff im besten Falle im Schuheflicken bestehen konnte, der
arme Teufel war heilfroh, weil er so umsonst an sozusagen neue Schuhe
gekommen war, jedenfalls an die besten, die er je besessen hatte, oder
sagen wir: seit langem, ich habe an nichts gespart bei diesen Schuhen,
schließlich sollten sie mir Glück bringen, und daß sie mich so viel
Zeit gekostet haben wegen der verdammten See, nahm ich als zusätzlichen
Glückswink, sie würden mir eben lange Glück bringen, meine ersten
amerikanischen, dem Magen und dem Meer abgetrotzten Schuhe, sollen sie
Ihnen und Ihrer Frau und Ihrem wunderhübschen Kind vor allem viel Glück
bringen, sagte der arme Teufel, als er seine Schuhe wieder in die Hand
nahm, wenn sie Ihnen Glück bringen, werden sie mir auch Glück bringen,
er hat diese Schuhe dann bis zu der Stunde, als der Hafen von Buenos
Aires endlich in der Morgendämmerung vor uns auftauchte, um den Hals
getragen, und wann immer und wo immer ihnen Gefahr drohen konnte, durch
Mitmenschen und Meereswogen, sie unter seiner Jacke versteckt und die
Arme um sie geschlungen, und jetzt wollen wir mal sehen, sagte mein
Vater, da war ich vielleicht sieben Jahre alt, jetzt wollen wir mal
sehen, wie lange uns diese Schuhe noch Glück bringen werden in diesem
neuen Land, bis jetzt kann ich mich nicht beklagen, auch wenn du den
ganzen Tag nur zu klagen hast, wenigstens so lange du über deinen
Schuhen sitzt, das ist etwas anderes, Frau, sagte Vater, so über einen
Schuh gebeugt arbeitet es sich besser, wenn man dabei etwas zu sagen
hat, und was soll ich sonst sagen, außer, daß es das Leben mit uns
schon noch ein klein wenig besser meinen könnte, wir sind nicht
verhungert, sicher, aber satt geworden sind wir auch nicht in diesem
Amerika, oder?
Heute
darf ich Sie, und daran erkennen Sie unschwer, daß ich übel gelaunt
bin, darf ich Sie noch einmal an unseren Vertrag und die in § 13 Ziffer
2 vorgesehene Konventionalstrafe von 50.000 USD erinnern; und was ein
Dollar in Ihrem wie unserem wiedereinmal kollabierenden Argentinien
wert ist, wissen Sie ja genau so gut wie ich. Überhaupt ist mir, als
wären wir Italiener es gewesen, die bei unseren diversen
Einwanderungswellen in den letzten hundertfünfzig Jahren ein ansonsten
vollkommen normales Land erst zu dem gemacht haben, was es seither ist.
Ein hysterischer Haufen aus Wirtschaftskrisen, Hyperinflation,
gnadenloser Selbstverliebtheit, Militärputsch und Lupara-Logik,
natürlich zu verrechnen mit unserem Beitrag zur Harmonik des Tango,
diesem Exportartikel Nummer eins in die Volkshochschulen des Norte,
nichts als dramatisch still stolpernde Rache.
(Und daß gestern, wie ich
lese, zwei Schwerverbrecher anstandslos durch das Hauptportal des
Departamento Central de
Policia flüchten konnten, ungestört an den
Marmorsäulen vorbei, an die ich mich von meinem letzten Aufenthalt her
noch gut erinnern kann, ebensogut wie an die überall herumstehenden
Polizeiknüppel: da fühlt man sich doch gleich wie zuhause.)
Warum
ich übler Laune bin? Wenn Sie wüßten, was dieses germanische
Pensionärstouristenpack sich frühmorgens für Musik auflegt in der
Nebenkabine … Diesen Nationalgenius. Dazu fällt mir günstigsterweise
nur mehr ein: Tutto il
mondo è burla. Falstaff. Schlußfuge. Verdi.
Darf
ich Sie also, um für heute zum Schluß zu kommen, erinnern: Sollte im
Zusammenhang mit unserer Arbeit irgendwie und wie auch immer nur der
Hauch einer Andeutung auftauchen, die erzählten Leben hätten irgendwas
mit dem meinen zu tun, ob genealogisch oder sonstwie, sind Sie fällig.
Sie und die USD. Ich habe meinen halbfürstlichen Namen nicht deswegen
vor knapp vierzig Jahren abgelegt, um ihn jetzt in La Nacion zu lesen.
Großvater,
mit dem ich, wie mit allen anderen Vorfahren, NICHT verwandt bin, bitte
erinnern Sie sich daran, Großvater machte den Weg gleich dreimal in
seinem Leben. Damit hält er den Familienrekord, ist aber nicht
untypisch für seine Zeit.
Man stelle sich vor: je nach einem knappen
Dutzend Jahren blüht einem auf der je anderen Seite des großen Sees die
Fata Morgana des besseren Lebens, El Sur wie Mezziogiorno, egal,
jedesmal ein neuer Versuch, ein neuer Anlauf aus dem Nichts. Daß man
darüber nicht sonderlich alt wird, leuchtet ein.
Aber dieser Großvater
hat genügend Nachkommen hinterlassen, diesseits wie jenseits des
Atlantiks, um die Reisewelle nicht abebben zu lassen. War alles dabei:
Maurer, Schuster, Taschenfuchser, Akrobaten, Konditoren, Hungerleider
die meisten, und irgendwann der Balltreter, die Tänzerin und der
Märchenerzähler. Zwei von diesen dreien sind am Messer gestorben (dazu
bringe ich übrigens zwei großformatige Exponate mit, Sie werden
begeistert sein, und, hoffe ich, erschrecken).
So gesehen haben die
Schwarzen der Sociedad 6 de Enero Recht, wenn Sie (im Jahre 1876)
singen: Napolitanos
usurpadores / Que todo oficio quitan al pobre. Da
haben die armen Zugewanderten den ärmeren Eingeborenen massiv in den
Brotsack gelangt. So gesehen ist das das Lied des Südens.
Ich habe die
Noten dabei, vielleicht singen wir es ja, irgendwann, spät nachts, und
plündern Ihren vorzüglichen Weinkeller. (Die von Ihnen erheischten
luganeghe
sind sicher und kühl verstaut, en masse, irgendwo im Bauch
des Schiffes. Ich habe mir, tapfer tapfer und längst schon bereut, nur
zwei beiseite gelegt zum eigenen Gebrauch.)
(Annotate. Passagen. Roman in
Arbeit)
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Vernatsch. Passagen.
Ich
schreibe Ihnen, lieber Freund, heute nicht wie verabredet aus Torino;
befürchten Sie nicht das Schlimmste, aber gehen Sie beruhigt vom
Ärgsten aus.
Nach den vielen Wochen, die wir
gemeinsam in der Boca Buenos Aires' verbracht haben, vergraben in
unsere Archive und die Erinnerungen anderer, war es mir, wie ich gern
gestehe, vollkommen entfallen: daß in Torino demnächst etwas ausbrechen
wird, was sich Olympische Winterspiele nennt.
(Als ob Winter allein nicht schon schlimm genug wäre für unsere Knochen. Dann auch noch Spiele.
Wenns denn wirklich Spiele wären, würden unsere beiden kindischen Hirne
unter Umständen noch etwas damit anfangen können, aber so ...)
Und
also entstieg ich in Torino nichts ahnend dem Flugzeug. Und war sofort
auf dem Stand der Dinge. Flüchtete in meine Wohnung. Vergrub mich. Und
hatte, keine vierundzwanzig Stunden später, begriffen, daß kein
Entrinnen war.
Ich war schon so tief gesunken
gewesen, daß ich mir sogar mein Essen in die Wohnung bringen hatte
lassen. Aus dem Restaurant meines Vertrauens, vom Koch meiner langen
Nächte, einem verläßlichem Freund. Und dann zeichneten sich farbige
Ringe auf der Verpackung ab.
Sekunden später hing
ich am Telefon und flehte meinen Reiseagenten an, mir bei der Flucht
behilflich zu sein. Er buchte einen Flug nach Helsinki. In den dortigen
Archiven vermuten wir ja noch einiges. Ich warf also ein paar Socken in
den noch nicht zur Gänze ausgepackten Koffer, holte meinen dicksten
Mantel aus dem Schrank, setzte mich in ein Taxi, schloß die Augen und
machte mich auf die Reise.
Beim Umstieg in Verona
holte mich mein Schicksal ein: Zwischen dem einen Flug und dem anderen
war anscheinend Nebel aufgezogen, der Flughafen geschlossen worden. Die
umliegenden Flughäfen ebenso. Venezia, Milano, München, Zürich: kein
Entrinnen. Selbst Innsbruck, eine Stadt, von der ich bis dato nicht
wußte, daß es sie gibt, und noch viel weniger, daß sie über einen
Flugplatz verfügt, vermeldete Nebelsperre. Als ich dann erfuhr, daß
Innsbruck sogar zweimal Olympische Winterspiele ausgerichtet hatte, war
ich allerdings mehr als froh um die atmosphärischen Störungen. (Erst
habe ich angerichtet geschrieben. Wär wohl zutreffender.)
Ich
bin aber, wie Sie nur allzu gut wissen, mit meiner Arbeit schon mehr
als in Verzug. Und kann also wegen einer Sache, für die die Alten
Griechen sich schamgebeugt in den Olivenhain zurückgezogen hätten, um
Wein mit Wasser zu mischen, wegen einer solchen Winterolympiade kann
ich nicht einfach unsere mehrjährigen Bemühungen hinschmeißen, auch
nicht zwischenzeitlich. (Und schon gar nicht für zwei oder fünf Tage
oder wie lange so etwas eben andauert. Mit meinen eigenen
Arbeitsstillständen kann ich inzwischen umgehen. Aber sowas ...)
Da saß ich. Verona Valerio Catullo.
Stöberte in meinen Erinnerungen, blätterte in meinen Notizen. Ob
Cesarini nicht doch in dieser Stadt sich aufgehalten habe. Auf
Durchreise aus dem Zugfenster sich gelehnt. Am Stadtrand eigenhändig
einen Reifen an seinem FIAT 806 Corsa gewechselt. Mit seinem Affen die Stufen der Arena erklettert. Irgendetwas. Nichtsda.
Und
war schon am Verzweifeln, sah mich bereits anstaltlich untergebracht,
als ich, auf dem Weg zu den Toilettenräumen, an einem Plakat vorbeikam.
Zypressen, ein See, und: Here, where Schiava grapes grow, ...
Ich
ließ das Händewaschen, riß das Plakat von der Wand, eilte zu der jungen
Dame, der ich mein Gepäck anvertraut hatte, legte das Plakat vor sie
hin und verlangte nach einem Taxi, das mich da hin, da - und ich stach
zeigefingerlings auf den See und die blaue Traube ein - dahin bringen
sollte. Die junge Dame sah mich einen Augenblick lang an, setzte dann
ihr professionellstes Gesicht auf und zuckte kaum merkbar mit der
Schulter.
Zehn Minuten später saß ich im Taxi und
dankte meinem guten Gedächtnis. (Dasselbe, das Sie schon des öfteren
verflucht haben. Weil es uns, wie mein Sinn fürs Abgelegene, vom
Hundertsten ins Tausendste bringt. Und unseren Cesarini-Stoff ins
Unermeßliche, Hallensprengende wachsen läßt, wie Sie, nicht ohne die
Übertreibung, die zu Ihrem Job gehört, sagen. Nun: Sie sind der
Aufpasser. Ich bin der Spürhund. Sie sind der Geldeintreiber. Ich der
Geldausgeber. Sie der Besonnene. Ich der Versonnene.)
Also:
Erinnern Sie sich an meine kleine Notiz aus dem Sommer 2004, im
Zusammenhang mit der späten Margherita Sarfatti? Daß sie, als sie
Mussolini verließ, als Mussolini sie verstieß, eines mitnahm auf ihrem
Weg nach Argentinien, im Jahre 1938 ... (und wegen dieser Reise
Milano - Zürich - Paris - Marseille - Buenos Aires waren wir ja auf sie
gestoßen und hatten uns gefragt: was, wenn die Sarfatti und unser
Cesarini auf dem selben Ozeandampfer? Kabine an Kabine?) Erinnern Sie
sich, daß, und da bin ich mir meiner Erinnerung nicht mehr sicher,
Chanel, Cocteau, Colette, wer von den dreien?, leicht verstört von
einem Sarfattischen Schrankkoffer berichtet, aus dem, scheinbar
schrankenlos, immer neue Flaschen eines Rotweins auftauchten, den die
Sarfatti als Vernatsch oder Schiava bezeichnete.
Nun, und so war ich auf dem Weg zu ihm.
Kam
gegen Mittag in einem sonnigen Dorf an und ließ mich vom Chauffeur samt
Gepäck am Dorfplatz, der hier Marktplatz genannt wird, abladen. Erst
einmal ankommen. Sie kennen meine Gewohnheit: sich ins Zentrum setzen,
Leute und Leben an einem vorbeiziehen lassen und dann weitersehen. So
saß ich in der Sonne und trank Espresso. Den Einwohnern schien es
großteils noch etwas kalt zu sein, sie verzogen sich in das gewölbte
Innere der Bar, die Zum Mondschein hieß.
Ich
meinerseits kam aus dem Nebel und konnte deswegen der Übung, im
Mondschein in der Sonne zu sitzen, durchaus etwas abgewinnen.
(Irgendwann dann doch Zuzug. Exilierte Raucher. Sie wissen: die neuen
Gesetze. Die italienischen Parlamentswahlen demnächst. Und die
Strategie der Hysterisierung.)
Es überkommt
einen, so dasitzend, und die Welt an einem vorbei, eine Art zunehmend
schläfriger Ruhe. Und gleichzeitig stellt sich eine neue Form der
Aufmerksamkeit ein: fürs Periphere. Das mag daran liegen, daß man sich
schnell in einem Widerspruch zur Umgebung befindet. Die tun, und man
tut nichts. Die haben zu tun, und man hat nichts. Die wissen, was zu
tun ist, und man ist gerade dem Nichtwissen auf der Spur. Und dem
Nebensächlichen.
Außerdem herrschte Zwischensaison. Das Italienische ist da etwas anschaulicher und spricht von fuori stagione,
schneidet uns ganz und gar ab vom Großen Touristischen Almauftrieb,
verschiebt uns außerhalb, nach draußen. Zwischensaison klingt nach
Zwischentief. Ein passageres Übel. Und wie Sie wissen, schätze ich
solche Übergänge sehr. Passagen. Sie kennen meine (andere sagen:
morbide) Hingabe an das vorläufig Verwaiste: Ich war also ganz in
meinem Element. Und dann ging mir Giuseppe Ungarettis Girovago durch den Kopf. Cerco un paese innocente / Ich suche ein unschuldiges Land / Busco un país inocente.
Und unschuldig war der Dorfplatz, der gerade gänzlich menschenleer war,
eventuell doch. Für ein paar Sekunden. Dann gab es wieder Bewegung.
Das
Schöne an der Zwischensaison ist im übrigen auch, daß man
ungekünstelte, mißtrauische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Weil man als
Kunde nicht vorgesehen ist. Und also und eigentlich als Fremder nur von
Amts wegen anwesend sein kann. Aber welches Amt? In welcher Absicht?
Solches Mißverständnis macht uns Absichtslosen Spaß. Schon gar bei
Sonnenlicht. (Erinnern Sie noch die schummrige Gasse der Boca? Da
schrammten wir allerdings messerscharf vorbei.)
Um
meine Absichtslosigkeit noch etwas zu schärfen, ging ich ins Café und
bestellte einen zweiten Espresso. Dabei fand sich ein nicht mehr ganz
aktuelles Druckerzeugnis, Gemeindeblatt genannt, dem ich unter anderem (mehr dazu ein andermal) die amtliche Verlautbarung entnahm, es sei ein neuer Chefdorfpolizist in town
und insofern nunmehr und unumkehrbar jederzeit davon auszugehen, daß
Falschparkern am Dorfplatz mit rabiatesten Mitteln entgegen getreten
würde, was ja bis anhin ... Und schon macht man sich Gedanken um den
Vorgänger und seinen Verbleib.
Um dem Gegenstand meiner Recherche, dem Vernatsch, genauer auf den Grund zu gehen, war es noch etwas früh.
Ich
ließ mein Gepäck zurück und ging auf Wanderschaft durch die Dorfgassen.
Begutachtete die Dorfpolizisten am Eck in ihren schwarzweißen
Uniformen, die, auf meinen einen Blick hin, schon ihren Block zückten,
synchron. Ich wedelte mit dem meinem zurück und winkte ab. Nichts zu
holen, nicht verloren, nichts gestohlen. Andermal. Und wanderte. Und
sah mich um. Und las. (Das Dorf hat den berühmteren seiner Häuser
Inhaltsangaben an die Wand gegeben.) This
building was the birth place of the mystic Maria von Mörl.
Mittelalterlicher Kern. Frühes Beispiel einer
Spätrenaissancearchitektur. 1812 kam hier die stigmatisierte Mystikerin
zur Welt.
Und da erinnerte ich mich an
Renato Cesarinis Zirkusvergangenheit. Und an meine eigene Herkunft. Wir
Napoletaner haben ja, wie Sie wissen, eine gewisse Übung in geistlichen
Zaubertricks. Ich sage nur: San Gennaro. Und: Tixotrope Gele.
Und
deswegen betrat ich, nicht ohne eine gewisse Erwartung, das Haus der
Ehrwürdigen Jungfrau. Parterre. Das sich als Bar entpuppte, die ein
Krokodil im Namen führt. Und als ich die Speisekarte sah, waren
Stigmata wie Mysterien urplötzlich verschwunden. Stattdessen stand
wenig später ein Teller mit Kasknödeln vor mir. (Was sich hinter dem
eigenartigen Namen verbirgt, werde ich Ihnen bei nächster Gelegenheit
in Buenos Aires vorexerzieren. Rezept, Geschmack und Textur sind
gespeichert.) Also: Es schmeckte köstlich. Und ich bestellte, auf
Verdacht, ein Glas Vernatsch dazu. Worauf der junge Mann, der den Laden
schmeißt (es kocht seine Frau Mutter), mich leicht strafend ansah und
sprach: Fernatsch. Eff. Ich machte es ihm nach. Fernatsch. Gut, sagte
er, und entschwand.
Vogel-Eff und Fenster-Vau, sagte eine Stimme vom Nebentisch her.
Nun,
Sie wissen, daß mein Deutsch nicht all zu schlecht ist. (Und das, was
ich in dieser Gegend hier manchmal höre, bestärkt mich darin.) Und Sie
wissen, daß ich Pädagogen wie Germanisten: verabscheue. Also werden Sie
verstehen, daß ich mich tot stellte. Vergebens, allerdings. Man sitzt,
zugunsten eines Klaviers, eng in diesem Lokal. Normalerweise eine mehr
als korrekte Entscheidung. Für dieses Mal eine fatale.
Fernatsch, sagte die Stimme, und Prost.
Um
Schlimmeres zu vermeiden, drehte ich mich zu ihr um. Da saß einer und
aß Polenta. In Ermangelung besserer Argumente nickte ich kurz und
vervollständigte meine Notizen zu den Kasknödeln.
Was
dann geschah, will ich Ihnen, um es kurz zu machen, stenographisch
mitteilen: Sie notieren, sagte der Unbekannte und hob sein Notizbuch.
Ich nickte. Beruf? Reisender, sagte ich. Er selbst auch, auf
Durchreise, Zwischenstopp, um ein Gedicht zu schreiben. (Und Sie
wissen, lieber Freund, welchen Ärger ich im Verlauf unserer Arbeit mit
Schriftstellern bekommen habe. Ich sage nur: Borges. Die Spezies ist,
aufs Ganze genommen, schlimmer als die vorgenannten
Verabscheuungswürdigen.) Aber ich ließ mich nicht provozieren. Und
sagte etwas von Stigmata. Augenblick, sagte der Schriftsteller, schob
mit Geste die Polenta zur Seite und blätterte in seinem Notizbuch.
Zitat: ... sollen nach dem Bericht
eines Zeitgenossen die biederen Landsleute der Maria von Mörl sich
immer wieder darüber gewundert haben, wie die Ekstatische bei ihrem
schlechten Gesundheitszustand auch noch die Kraft aufbrachte, jeden Tag
'ihre Rolle zu spielen'. Und fügte an: Auch das geringste
Gedicht noch bedarf der Recherche. Und im speziellen Fall handelt es
sich um eine kleine poetische Verteidigungsschrift zugunsten der
Jungfrau. Wider die Phantasielosigkeit. Und wieso sind Sie hier?
Nun,
lieber Freund, wir haben uns im Verlauf der Jahre oft genug darum
bemüht, vergeblich freilich, eine valide Kurzbeschreibung unseres
Vorhabens zu verfassen, also sprudelte ich probehalber, und weil es in
diesem Falle wirklich um nichts ging, aus mir: Angelpunkt ist ein
gewisser Renato Cesarini, 1906 bis 1969, als Einjähriger samt Eltern
via Genova nach Buenos Aires ausgewandert, dem Süden entkommen, im Sur
gelandet, wächst in Argentinien als Schuster, dann als Zirkusakrobat,
Schauboxer, Straßengaukler auf. Wird schließlich Fußballer und endlich
berühmt. 1929 von Juventus Torino nach Italien geholt, tritt er mit
einem Affen auf der Schulter auf, lernt sein Italienisch bei den
Puffmüttern, betreibt an der Piazza Castello eine tangheria. Und schießt seine Tore immer in letzter Sekunde. In der nach ihm benannten Zona Cesarini.
Schießt seine Tore in den vierdimensionalen Raum, der auch als
Nachspielzeit bekannt ist. Keine Sekunde zu früh (Gegentor), keine
Sekunde zu spät (Schlußpfiff). Er herrscht unangefochten über diesen
schmalen Korridor zwischen Spielende und Spielaus, weiß lange vor dem
Schiedsrichter, wann der rechte Augenblick ist, wann abgepfiffen wird.
Er ist der Reisende in der Zona Cesarini. Und 1936 ist die Zeit
gekommen, um wieder nach Buenos Aires zu ziehen. Er ist in seiner
Familie bereits der dritte, der die Reise über den Ozean in beiden
Richtungen mitmacht, und nach ihm kommen weitere, die vorerst letzten
flüchten sich im Jahr 2000 aus dem ökonomisch zusammenbrechenden
Argentinien in den reichen italienischen Norden und verschwinden
sklavenarbeitend in clandestinen Fabriken. Immer auf der Suche nach dem
richtigen Ort zur richtigen Zeit, dem rechten Augenblick in der Zona
Cesarini. Das Ganze also wird so etwas wie eine Ausstellung zu solcher
Art von Passagen.
Und glaubte, den Schriftsteller
damit ruhig gestellt zu haben. (Und war wieder einmal unglücklich ob
der Ungenügsamkeit von Kurzfassungen.) Na, sagte der Schriftsteller,
dann ist Kaltern ja der rechte Ort für Sie. Im eigentlichen Fußball
zwar nicht, da sind die Paulser seit immer überlegen. Das ist ein
Nachbarort, und insofern besonders schmerzlich. Aber es haben sich im
Jahr 1990 die Deutschen hier auf die WM vorbereitet. Beckenbauer
Teamchef. Dieser schwarzrotgolde Blitzschlag auf dem Trikot wie auf den
Flaschen der Sonderabfüllung, von denen das Dorf das eine oder andere
Exemplar noch anbetend hütet. Ein 1:0-Endspiel gegen ein Argentinien,
das im Auftaktspiel 0:1 gegen Kamerun verloren hatte.
Eigentlich,
sagte ich und gab deutliche Zeichen, daß das Gespräch beendet sei,
eigentlich bin ich ja wegen des Vernatsches und einer gewissen Sarfatti
hier. (Wenn ich nur schon vom FC Bayern reden höre! Im Hintergrund sang
die Knef. Von nun an gings bergab. Das versöhnte mich wieder etwas mit der Welt. Auch so eine Stigmatisierte.)
Sie
müssen wissen, sagte der Schriftsteller, daß ich hier einmal den
zweiten Platz belegt habe, in einem Riesentorlauf. Das ergibt
vielleicht auch noch ein Stück Text.
Ich stand eiligst auf.
Und
dann kam es, wie es immer kommt: Man tritt aus dem Leidenshaus der
Stigmatisierten, und schon schreitet einem ein Leichenzug entgegen. Der
Verblichene kraft Ehrenabordnung wohl gewesener Feuerwehrmann. Sodann
Espresso im Mondschein. Letzte Sonnenstrahlen. Ich notiere:
Sonnenuntergang 15.15 Uhr, 06/02/06. (Material für unsere Zahlenspiele.)
Hotel.
Die Taxifahrerin versah mich, strada facendo und auf Nachfrage, mit den
unumgänglichen Details. Und so weiß ich nunmehr, wer weiß, wozu?, wohin
der Sarg und woher die Friedhofsgänger, kurz, wo der Dorffriedhof,
übrigens zu einem ansehnlichen Teil Schenkung der hysterischen
Jungfrau. Dann bekam der Berg, hinter dem die Sonne verschwunden war,
einen Namen. Und was für einen, angesichts dieser doch halbmediterranen
Nordlandschaft: Lawinenspitz. Bei Gelegenheit werde ich noch zu
erkunden versuchen, wann, wie, und wo denn, wenn denn, hier Lawinen
abgehen sollen. Am Cerro Torre, gut. Aber aquí?
Der nächste Tag.
Komme
erst zur Dämmerzeit dazu, an Sie zu schreiben. Es zerrt einen hier
jeder an den Wein und in den Keller. Nun gut, werden Sie sagen, dazu
sind Sie ja, wo Sie sind. Für heute und als Summe meiner bisherigen
Beobachtungen nur soviel: Das Dorf hat seine Tücken. Zum einen werden
Sie unter Umständen, nächtens übern Dorfplatz schlenkernd, vermeinen,
es sei des Weines doch zu viel gewesen, allzumal die Dorfplatzlaternen
allesamt schräg stehen. (Sie stehen schräg, bei Tag besehen. Und also
wenden Sie sich vertrauensvoll an den Architekten.) Und es wird Ihnen,
auf dem Nachhauseweg bergan, die Zahl der orange beleuchtet in der
Gegend stehenden Kirchtürme verdächtig hoch erscheinen, woraufhin Sie
sie kurz per 0,5 multiplizieren. (Bei Tag besehen: Es sind wirklich
ihrer so viele wie gezählt. Im Zweifel eher mehr, weil auf Entfernung
schon mal mit einer der großen Zypressen verwechselbar. Was tut man
bloß mit all den Kirchtürmen? Außer nächtliche Heimkehrer verwirren.)
Und jetzt sind Sie gewarnt.
PS.: Um Madame
Sarfatti und ihrem Vernatsch auf die Schliche zu kommen, werde ich wohl
noch einige Tage hier bleiben müssen. Sie hören von mir.
(Annotate. Passagen. Roman in
Arbeit) |
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Das
Museum der siebenundzwanzig Minuten. Passagen
Sie können sich
denken, wie groß meine Müdigkeit war an diesem Tag.
Erst
die knappe Woche bei Ihnen in Buenos Aires, arbeitsamst wie immer (wann
endlich wird unseren Financiers aufgehen, daß wir beide nicht nur
grenzgeniale Ausstellungsmacher, sondern auch noch äußerst
kostengünstige Organisatoren größerer Zusammenhänge sind, hä?), sodann
die zugehörigen Nächte in der Boca samt den ewigen Spaziergängen
gassauf gassab, die Sie so treffend (erinnern Sie: es dämmerte bereits
leis?) als Unsere
Fußnoten bezeichneten; und es lag, wie häufig in solchen
Übergangszuständen, ein Geruch wie von warmer Vanille in der Luft. Dann
der Rückflug; äußerst unwirkliches Gefühl dabei, als ob man in
seidenpapierner Rosakutsche durch die Lüfte flöge - sollte doch
eigentlich, ging es nach den Durchsagen, die uns am Gate erreichten
(und unseren krisenerfahrenen Italoargentiniern offensichtlich größtes
Vergnügen bereiteten) der SantAliTalia-Flieger gepfändet am Boden
liegen bleiben: die Spritrechnung. Da kommt man einen Ozean später
anläßlich zweier Ehrenrunden über Fiumicino dann durchaus auf dumme
Gedanken. Nun gut, es ging sich aus, der Zug nach Brindisi dann auch.
Die Verhandlungen dort schwieriger als erhofft, aber davon sprach ich
Ihnen ja schon am Telefon. Und doch: um das delle Indie Orientali
werden wir nicht herumkommen. Sodaß am Ende, obwohl noch lang nicht
alles in trockenen Tüchern, man durchaus sagen konnte: Geschafft. Und
geschafft wieder den Zug bestieg. Brindisi, Bologna, Bozen, Brenner.
Den größten Teil der Strecke in einer Art Dämmerzustand verbracht, der
wahrscheinlich einem Mediziner Angst, dem Reisenden die Staatsbahn aber
erst möglich macht.
Grau
sieht es aus bei der Einfahrt in den Grenzbahnhof, und kalt. Gleich
will ich mir kurz die Beine vertreten, alles weitere schreibe ich Ihnen
dann später.
Kurz und gut: Ich
wurde in Innsbruck aus dem Zug geholt. (Ich notiere Ihnen das jetzt in
Stichworten, um für heute absehbar zu einem Ende zu kommen. Mehr dann,
ausführlicher, genauer, getreuer: bei unserem nächsten Treffen. Im
Gerede entwickeln sich solche verwinkelten Geschichten leichter als im
Geschreibe.) In Innsbruck also aus dem Zug geholt, polizeilich, ohne
weitere Angabe von Gründen. Aber durchaus rabiat. Ich kann Ihnen
glaubhaft versichern (aber wie die Dinge liegen kaum beweisen) daß sich
irgendwo in dem als Shoppingmall verkleideten Unterstock des Bahnhofs
auch noch mindestens zwei hochmoderne Verhörzellen befinden. Ich habe
sie beide besichtigt. Man rechnete mir, erfuhr ich zuguterletzt, da
hatte ich das, was ich für meine Geschichte hielt, schon erzählt, den
Tod eines Rennradfahrers an, freilich ohne mir erklären zu können, wozu
ich den alten Mann hätte umbringen sollen.
Er muß irgendwo bei
Bozen in den Zug gestiegen sein, ich weiß es nicht genauer, ich
dämmerte, wie gesagt, vor mich hin. Dann aber schob er mir den
Vorderreifen seines mintgrünen Rennrades über die Füße. Ich sah auf und
erblickte, unscharf noch, einen verschwitzten, gegerbten,
zaunlattendünnen Mann in voller Wettkampfmontur, der gerade versuchte,
seine Rennmaschine irgendwie im Abteil unterzubringen. Er sah aus wie
achtzig und war wohl knappe neunzig. Wir arrangierten uns. Und dann
erzählte er. War vor vier Wochen vom Parkplatz des Splendid Hotel la Torre
in Mondello gestartet, zwei Wochen, bevor mit dem Mannschaftszeitfahren
Palermo - Mondello, an dem er par définition kaum teilnehmen konnte,
der Giro d'Italia eröffnet wurde. War dann Etappe für Etappe
abgefahren, Tag um Tag an Vorsprung verlierend, am Anstieg zum Passo
Fedaia hatten sie ihn überholt, auf der Abfahrt vom Paß war er von der
Straße abgekommen (verbremst, sagte er) und den Felshang
hinuntergestürzt; selbst nur ein paar Blessuren, der Radrahmen aber arg
verzogen, was einen ganztägigen Werkstattaufenthalt notwendig machte.
Weswegen er dann bei nächster Gelegenheit in den Zug gestiegen war, als
ausgleichende Gerechtigkeit (die haben ihre Mechaniker ja direkt dabei,
schon gar Ersatzräder) er wollte bei Varese wieder auf den Troß
treffen, für die letzten Etappen, hatte dann aber beim Umsteigen den
falschen Zug erwischt und war nun, wie ich ihm sagen mußte, Richtung
Norden unterwegs. Da fuhren wir schon in den Brenner ein.
Nun
kenne ich diesen Grenzbahnhof noch aus alten Zeiten, denen meiner
Jugend, war wöchentlich zu Gast gewesen, und es war jedes Mal, auch bei
späteren, beruflichen Übergängen, dasselbe: abträglichstes Wetter, ein
sogutwie ewiger Aufenthalt zur Abwicklung polizeilicher sowie zoll- und
stromtechnischer Geheimrituale, und der Barista von Gleis 7 mit den
flaschen-bodendicken Brillen, dem Karren und vor allem dem quer über
den Bahnhof schallenden Pannini!,
Chochachola, Arrranciata, Limonattta, Pannini!-Rufen. Ein
Grenzstreifen wie ein verwunschenes Land, il paese delle meraviglie, e
pure incantato. War einmal, war gewesen.
Und
doch treiben die Klänge noch übers Gleis, als ich aus dem Zug steige.
Siebenundzwanzig Minuten Aufenthalt. Zeit und Gelegenheit, dem
Rennradfahrer samt Gefährt beim Aussteigen zu helfen, und eine Runde zu
drehen. Füße vertreten. Kopf wachbekommen. So der Plan. So das Vorhaben.
Dann
ging ich durch die Unterführung. Und es nahm der feuchtklamme Gang kein
Ende, als dehnte er sich bei jedem meiner Schritte weiter aus; da
überholte mich, heftig in die Pedale tretend, der Alte, und entschwand,
und verschwand doch nicht gänzlich aus meinem Gesichtsfeld, als führe
die Etappe heut durch einen nichtendenwollenden Tunnel, das sirrende
Geräusch der Kette aber wurde immer deutlicher. Ich hielt das für eine
kleine Kreislaufschwäche und wollte mich an die Unterführungswand
lehnen. Die gab nach.
Mir
ist, als hörte ich Türangelquietschen zwischen den Pannini!-Rufen,
stehe in einem weiteren, ebenfalls klammfeuchten Gang, sehe
Schaukästen, Vitrinen der Wand entlang, in diesem lowtech-Stil, wie er
zur Zeit bei Ausstellungsmachern so beliebt ist, gehe, soviel
Berufsethos ist noch in mir, die Schaukästen ab, finde darinnen nichts
als mich selbst, in jedem der unzähligen Kästen einer meiner
Siebenundzwanzigminutenaufenthalte, fein säuberlich, aber
unchronologisch gereiht, die Logik erschließt sich mir noch nicht, die
Zeit läuft in blassen Zahlen bläulichdigital mit; ich im Schlafen,
Rauchen, beim Imgangstehen, zeitungskaufend, caffè al banco, gar
das eine arg verliebte und erregte Mal hinter der Säule am Binario
tronco, samt den rundum wehenden roten Haaren: all das in leicht
verlangsamten Bewegungen und in Farben wie aus Technicolorzeiten. Was
nun die tatsächliche temporale Dimension arg übertreibt. (Könnte aber
auch der späte DDR-ORWO-Farbton sein, dann stimmten die Relationen
wenigstens zeitlich wieder.) Ich weiß, wie ich die Schaukästen so
abgehe, daß ich nicht weiß, was ich da sehe. Noch bin ich an keinem
Ende. An einem Anfang auch nicht.
Ich soll, sagte man
mir gerade, morgen einem Richter vorgeführt werden. Papier und
Bleistift überließe man mir zum Zwecke meiner Verteidigung (ansonsten
alles: abgenommen); ich benutze das Schreibzeug, um Ihnen diese
Geschichte, die ja durchaus in unser Thema paßt, zu notieren: Was ist
mir schon um morgen, um den Richter.
Ps.: In einer der
Vitrinen fand sich dann tatsächlich auch ein Rennradfahrer ein.
(Annotate. Passagen. Roman in
Arbeit)
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