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Stand 09.04.2009



Herzsprung

Roman.  Haymon Verlag, 1995. Diogenes Taschenbuch, 2000



Prolog

Irgendwann um vier Uhr morgens hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Nachdem ich stundenlang auf dem Bett gesessen und ins Leere gestarrt hatte. Etwas lief falsch. Etwas war außer Kontrolle. Wo ich auftauchte, gab es innerhalb kürzester Zeit Tote. Dafür mußte es einen Grund geben.

Von heute aus gesehen ist diese Sicherheit, die mich im April des Jahres 1992 offensichtlich so plötzlich und alles plattwalzend wie eine Staublawine überrollt hat, eine äußerst trügerische Angelegenheit. Im nachhinein denke ich, ich hätte einiges von dem, was zu erzählen ist, vermeiden können, wenn ich auf den hundsgemeinen Hausverstand gehört hätte. Nur: damals war ich ein paar Jahre jünger. Entsprechend dümmer. Und vor allem: damals hatte ich noch nicht erfahren, wie wenig es dazu braucht, einen Menschen ums Eck zu bringen. Zwei Bankkonten, ein halbwegs weißer Hemdkragen, eine Satellitenverbindung und eine Gewinnspanne, die um Zehntelpunkte über dem liegt, was sie Verlust nennen. Das reicht. Ich hatte es nicht glauben wollen. Und war dann mit meiner vorlauten Nase ziemlich unsanft darauf gestoßen worden.
(...)


Kapitel XXX

Ich traf Jonny nachmittags auf einer Straße im Prenzlauer Berg. Hätte er mich nicht angesprochen, ich wär an ihm vorbeigelaufen.
"Und?" sagte Jonny, "hast was Unaufschiebbaren zu tun?"
"Gar nichts", sagte ich.
"Willst nicht mitkommen? Ich muß noch einen Verstärker organisieren. Zu Fuß ist das ein bißchen viel. Ich geb dir einen aus, wenn du mir tragen hilfst."
"Konzert?"
"Kneipenauftritt", sagte Jonny. "Handgeld."
"Ich komm mit", sagte ich.

Wir hatten Jonnys Verstärker abgeholt und abwechselnd durch die Straßen getragen. Das Ding stellte sich als höllenschwer heraus.
"Die Spule", sagte Jonny. "Macht einen verflixt guten Sound. Is so ´n altes Ding aus den frühen Siebzigern. Für den Sound darf sie ruhig etwas wiegen."
Wir ließen uns Zeit. Ab und zu machten wir Halt, wer gerade am Tragen gewesen war, setzte sich auf den Verstärker.
"Ich weiß nicht mehr genau, wo ich heute zu spielen hab", sagte Jonny, als wir wieder einmal eine Verschnaufpause eingelegt hatten.
Ich lehnte Jonnys Gitarre an die Hausmauer.
"Und das fällt dir jetzt ein. Vielleicht laufen wir die ganze Zeit schon in die falsche Richtung."
"Ich denk ja schon die ganze Zeit drüber nach", sagte Jonny. "Aber ich komm nicht drauf. Irgend so´ne Kneipe. ´ne dunkle. Kleine."
"Kann also jede hier sein", sagte ich.
Jonny nickte und lachte.
"So ziemlich", sagte er.
Dann griff er sich die Gitarre, holte sie aus ihrer beigen Stoffhülle und spielte leise drauflos. Zuerst einzelne Töne, dann wieder welche, tiefe, hohe. Einen halben Akkord. Einen Akkord. Mit dem Fuß klopfte er sich den Rhytmus. Das Ohr hatte er auf die Gitarre gelegt. Er schien in sie reinzuhorchen.
Nach zehn Minuten packte er die Gitarre wieder ein, gab sie mir, nahm den Verstärker und ging los.
Als ich ihn einholte, sagte er: "Wir suchen uns jetzt ´ne schöne Kneipe. Und da spiel ich."

Und Jonny spielte. Sie kannten ihn nicht in der Kneipe. Er kannte sie nicht. Jonny war in die Kneipe gegangen, wir hatten uns zwei Wiskeys bestellt, er hatte seine Gitarre ausgepackt und leise vor sich hingespielt.
"Na, Manager", hatte Jonny nach einer Weile gesagt, "willst nicht was tun für dein Geld?"
"Zehn Prozent?" hatte ich gesagt.
"Allright, Mister Ten Percent."
Ich hatte nach dem Chef gefragt.
"Jonny", hatte ich gesagt, "Jonny hört jetzt dann auf zu spielen. Für zweihundert Mark spielt er bis morgen früh."
"Zweihundert?"
"Und ´ne Flasche Wiskey."
"Hundertfünfzig. Und die Flasche."
Jonny nickte bloß, als ich ihm mein Verhandlungsergebnis mitteilte. Nickte und spielte weiter.

Als Jonny seine Gitarre wieder einpackte, war es kurz vor fünf Uhr morgens. Er hatte ein anderes Programm gespielt als das letzte Mal. Etwas stiller. Etwas trauriger.
Noch war es nicht hell geworden. Die ersten fleißigen Bürger saßen in ihren nach kaltem Zigarettenrauch riechenden Autos und hetzten sich auf dem Weg zur Arbeit.
Jonny und ich ließen uns Zeit. Hielten an jeder Straßenecke. Und erzählten uns Geschichten.
"Willst du mit hochkommen?" sagte Jonny dann und zeigte auf die heruntergekommene Hausfassade hinter ihm, "kannst hier pennen, wenn willst."
Ich ging mit.

Jonny hatte Milch, Brot, Käse, Obst und Zeitung besorgt.
Wir saßen an einem riesigem Tisch, bei dem nicht klar war, was er vorher gewesen war. Eine schwarz gestrichene Eisenplatte, die mindestens viereinhalb Meter lang war und so stabil, daß sie sich keinen Millimeter durchbog. Jonny hatte auch keine Ahnung, woher das Ding stammte. Und noch viel weniger, wie es in die Wohnung gekommen war. Jonny wohnte erst seit ein paar Wochen in dem Haus.
Es war vor einem Jahr besetzt worden, nachdem ein Spekulant Bauarbeiter geschickt hatte, um die Leitungen rauszuschlagen und die Treppen einzureißen. Seither waren die ersten zwei Stockwerke praktisch unbewohnbar, der dritte und der vierte Stock nur über eine behelfsmäßige Treppe erreichbar und ohne Strom und Wasser.
"Wird alles noch", sagte ein struppiger junger Mensch, der sich zu uns an den Tisch gesetzt hatte und einen Hund kraulte. "Im Sommer kommen das Treppenhaus und der zweite Stock an die Reihe. Wir gehen hier nicht mehr raus. Wollen die eh nur teuersanieren, die Schweine. Und dann haben wir plötzlich das Beamtengesindel und das Juppiepack im Kiez. Bis sie uns ganz aus dem Kiez vertrieben haben. Schau dir Kreuzberg an."
Im Winter war es etwas hart gewesen. Keine richtigen Öfen.
"Die haben sie als erstes rausgeschlagen, die Schweine."
Sie hatten sich mit improvisierten Heizstellen beholfen, auch schon mal mit einem Lagerfeuer in einem der Zimmer, und waren enger zusammengerückt. Neun Leute in drei Zimmern.
Jetzt waren sie insgesamt zu zwölft und auf zehn Zimmer verteilt. Im Sommer würden es mehr werden.
Langsam füllte sich die Küche. Als ich mich ans Zeitungslesen machte, waren wir zu siebt.
"Und?" sagte Jonny. "Was ist nun. Machst du weiter meinen Manager?"
"Hängt davon ab, ob du dir einen leichteren Verstärker anschaffst."
"Der bleibt", sagte Jonny, "ein bißchen Schweiß muß sein, um den Blues zu spielen."
"Ich überleg´s mir noch", sagte ich.
Jonny grinste.
"Nein, im Ernst", sagte ich, "ich überleg´s mir."
"Tu das", sagte Jonny.
"Was hör ich da?" sagte ein blutjunger Punk, der eben in die Küche gekommen war, "Manager? Affenscheiße. Das hat man davon, wenn man die Grufties in Haus läßt."
Und dabei sah er Jonny und mich herausfordernd an.
"Schon gut", sagte Jonny, "iß was. Dann wächst du auch noch."

"Scheiße", sagte ich und haute auf die Eisenplatte, daß es quer durch den Raum dröhnte.
"Was is´n?" sagte Jonny.
"Van Tu", sagte ich.
"Was?"
"Van Tu."
"Was ist das?"
"Der Cousin von einem Toten", sagte ich.
Es war eine kleine Meldung. Seite vierzehn, rechts unten. Nach Ho Van Tu wurde gefahndet. Er stand im Verdacht, zusammen mit einem anderen vietnamesischen Vertragsarbeiter seinen Cousin ermordet zu haben, stand da. In der Mitte ein kleines Foto.
"Und?" sagte Jonny.
"Er ist es nicht gewesen. Ich weiß, wer´s gewesen ist. Ein paar Skinheads."
"In dem Fall würde sogar ich die Scheißbullen anrufen", sagte der Punk, "und denen das mit den Skins verklickern."
"Eben nicht", sagte ich. "Da haben ein paar Leute die Finger im Spiel, die es anscheinend sogar geschafft haben, die Bullen auf die beiden zu hetzen. Die Bullen sind das Letzte, was sie brauchen können."
"Sind sowieso das Letzte", sagte ein Rasta und zog an seinem Kiff-Pfeifchen.
"Und?" sagte Jonny.
Ich hob die Schultern.
"Wenn man wüßte, wo er umgeht...", sagte ich und dachte laut nach, "wenn man wüßte, wo er umgeht, könnt man ja vielleicht etwas tun. Aber im Wohnheim ist er sicher nicht mehr und auf seinem Standplatz auch nicht. Der ist ja nicht blöd, dem haben sie ja schließlich seinen Cousin erschlagen. Vielleicht sind die beiden untergetaucht, der Ho und der andere."
Untergetaucht. Jetzt waren wir schon zu dritt.
"Gib mal her", sagte der Rasta, zog die Zeitung zu sich hinüber und riß die Meldung aus, "den finden wir schon."
"Und wie?" sagte ich.
Die konnten überall sein. Und die Stadt war groß.
"Laß das mal unsere Sorge sein", sagte er. "Sind nicht nur die Faschisten organisiert. Die Antifaschisten auch, mein Lieber. Wo hat der seinen Standplatz gehabt?"
Ich sagte es ihm.
"Siehste", sagte der Rasta, "ist ja hier im Kiez. Zwölf Stunden, und wir haben sie. Wir bringen sie ins Haus."
Plötzlich klang der kiffende Rasta ziemlich militärisch.
"Gut", sagte ich, "danke."



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