Weißwein und Aspirin
Hirnrissige
Geschichten
Diogenes Taschenbuch, 2002
Weißwein und Aspirin
Die Kopfschmerzen
waren schon dagewesen, bevor ich den Raum betreten hatte. Die
Klimaanlage machte alles nur noch schlimmer. Drei Stunden, das wußte
ich, würde ich aushalten müssen. Dann ein Glas Weißwein und ein
Aspirin, und Hoffen. Hoffen, es bald überstanden zu haben.
Entsprechend
unkonzentriert war ich. Stellte, nachdem ich meine drei ersten Sätze
gesagt hatte, mitten im vierten, fest, daß ich nicht mehr wußte, wovon
im ersten die Rede gewesen war.
Zweieinhalb Stunden noch, eine Qual.
Aber gutes Geld, das ich mir eben ersitzen mußte. Ich hatte ein Seminar
zu halten, zwanzig Studenten hatten ein Seminar zu besuchen. Wir waren
schon vor einiger Zeit stillschweigend übereingekommen, uns das Leben
gegenseitig so erträglich wie möglich zu machen. Deswegen fragte auch
keiner nach, was ich mit dem, was ich sagte, eigentlich meinte.
Weswegen ich auch nicht darüber nachdenken mußte. Was wiederum meinen
Kopf freute.
Daß ich meine Kopfschmerzen schließlich vergaß,
solange, bis sie weg waren, verflogen, lag an der Geschichte. Einer
Geschichte, die plötzlich, ohne Vorwarnung, da war, sich in den Raum
gesetzt hatte.
Gesprochen wurde die Geschichte von einer Studentin,
keine zwanzig Jahre alt, grünbuntes Haar, Deutsch mit schweizer
Einschlag, Türkin, noch nicht durch besondere Strebsamkeit aufgefallen.
Sie hatte eine Geschichte erzählt bekommen.
Es
lebte in Stambul ein weitum berühmter Professor für Alte Stambuler
Geschichte. Ein ruhiger, in langen Sätzen und mit den Händen
sprechender Gelehrter alter Zeiten, ein Mann, der gerne gut aß und
trank und den Tänzerinnen zusah dabei. Der Professor litt seit Jahren
unter den immergleichen, ihn immer begleitenden Kopfschmerzen. Er lebte
leise lächelnd damit, und aß und trank und sah dabei den Tänzerinnen zu.
Bis
die Kopfschmerzen eines Tages stärker wurden. Sagte der Professor. Und
wußte, daß es nicht die Kopfschmerzen waren, die stärker, sondern er,
der schwächer geworden war. Weil er an Essen und Trinken und
Tänzerinnen immer weniger Freude hatte. "Das Alter", sagte er zu seinem
Freund, dem Arzt.
"Dann werden wir uns eben einbilden", sagte sein Freund, der Arzt, "daß
in der Kunst die wahren Freuden des Lebens liegen."
Die
Kopfschmerzen des Professors wurden von Tag zu Tag unerträglicher, so
unerträglich, daß er grau wurde im Gesicht. Er ging zu seinem Freund,
dem Arzt, und sagte: "Hilf mir."
Sein Freund, der Arzt, war ein
Arzt just für alle Fälle, in denen der Kopf Schwierigkeiten macht. Er
klebte Drähte auf den Kopf seines Freundes, schloß sie an einen Apparat
an, zeichnete sein Hirn in Linien auf Papier, ließ ihn an Essen und
Trinken und Tänzerinnen denken und verglich die neuen Linien mit den
alten, er schob seinen Freund, den Professor für Alte Stambuler
Geschichte, in eine Röhre und sah sich seinen Kopf auf einem Schirm von
innen an, scheibchenweise, und als der Professor sein Hirn in
Scheibchen und in Farbe auf dem Computermonitor sah, wurde er noch
grauer im Gesicht und verließ wortlos die Klinik und trank den Rest des
Tages Raki und wurde traurig.
Am nächsten Tag schickte ihn sein
Freund, der Arzt, zu einem anderen Arzt. Dem Professor wurden Dutzende
von Fragen gestellt und er beantwortete sie alle, freundlich und
geduldig, in der Hoffnung, daß es seinem Kopfschmerz abhelfen würde.
Aber es half nicht. "Im Kopf sind Sie noch ganz in Ordnung für Ihr
Alter", sagte der Arzt. "Ich würde mir keine Sorgen machen, Ihr Geist
ist nicht defekt."
Und der Professor wurde von seinem Freund, dem
Arzt, zu weiteren Ärzten geschickt, und immer wieder ließ sein Freund,
der Arzt, sein Hirn Linien auf Papier zeichen, und der Professor sagte:
"Schade ums Papier, welche schönen Dinge könnte man darauf schreiben,
Buchstaben, Worte, Sätze. Und nicht nur Linien", und die Wochen
vergingen damit und die Monate, bis der Arzt, sein Freund, sagte: "Ich
kann nichts finden, lieber Freund. Und ich kann es dir nicht erklären."
"...und
meine Kopfschmerzen kannst du mir auch nicht nehmen", sagte der
Professor. "Wir haben alles versucht", sagte der Arzt, "mir fällt
nichts mehr ein."
Da stand der Professor wortlos auf und ging und
trank den Rest des Tages und die Nacht lang Raki und wanderte von einer
Bar zur anderen. Als ihn sein Freund, der Arzt, endlich in einer
Hafenbar gefunden hatte, nahm er ihn an der Hand und sagte: „Eine
Möglichkeit, Liebster. Wir haben noch eine Möglichkeit."
Und er nahm
den Professor mit und legte ihn schlafen. Und als der Professor wieder
aufwachte, sagte sein Freund, der Arzt. "Ich werde deinen Kopf
aufschneiden, und nachsehen. Vielleicht finde ich doch etwas."
Und der Professor sah ihn an, nickte dann und sagte: "Tu das."
Und
als der Freund des Professors, der Arzt, von dem man wissen muß, daß er
ein weitum berühmter Hirnchirurg war, den Schädel seines Freundes
geöffnet hatte, entfuhr ihm ein erstauntes Ahhh. Dann sah er sich den
geöffneten Schädel von allen Seiten an, näherte sich langsam und
vorsichtig dem Hirn seines Freundes, und schleckte es dann ab. Dann
sagte er: "Ist gut, machen wir ihn wieder zu", und gab seinen
Assistenten einen Wink.
Als sein Freund, der Professor, aus der
Narkose erwachte, sagte er: "Und, wie sieht es aus?" "Gut", sagte der
Arzt, "du wirst keine Kopfschmerzen mehr haben." "Das ist schön", sagte
der Professor, "und, was wars?" "Ein Haar", sagte der Arzt. "Ein Haar?"
"Da war ein Haar, das auf deinem Hirn lag, eineinhalb Zentimeter lang,
mein Freund. Es muß durch die Nase und die Stirnhöhle bis auf die Dura
gewandert sein." "Dura?" sagte der Professor. "Hirnhaut", sagte der
Arzt, "und da hat dir das Haar wehgetan. Jetzt ist es weg." Der
Professor lächelte und sagte: "Du bist ein Freund."
Wochenlang
lebte der Professor für Alte Stambuler Geschichte und hatte seine
Kopfschmerzen schon längst vergessen, das Grau war aus seinem Gesicht
verschwunden und man sagte, er ist wieder ganz der Alte, bis auf die
Tänzerinnen, aber das wird auch noch werden, als man den Arzt rief. Man
hatte seinen Freund im Rakirausch auf der Straße liegend gefunden.
"Ich weiß auch nicht, wieso", sagte der Professor zu seinem Freund. Und
auch beim nächsten Mal wußte er nicht, wieso.
Erst
als er Tag und Nacht wach war und Tag und Nacht Raki trank, fiel ihm
ein, wieso. "Mein Arzt und Freund", sagte er zu seinem Freund, dem
Arzt, "ich kann nicht schlafen. Ich träume. Ich träume jede Nacht von
einer Zunge, die mein Hirn leckt. Dann wache ich auf. Und dann spüre
ich eine Zunge, die mein Hirn leckt. Langsam und Zentimeter für
Zentimeter. Manchmal hilft der Raki, und dann spüre ich nichts mehr.
Aber er hilft immer weniger."
"Gehen wir Raki trinken", sagte der
Arzt. Und als sie vor dem Raki saßen, sagte der Arzt zu seinem Freund,
dem Professor für Alte Stambuler Geschichte: "Ich habe es abgeschleckt,
dein Haar. War einfacher und sicherer, als es mit einem scharfen
Instrument zu entfernen. Tut mir leid." Und der Professor küßte seinen
Freund, den Arzt, und umarmte ihn.
"Gut", sagte
ich und sammelte meine Papiere ein, die ich sinnloserweise vor mir
ausgebreitet hatte, "morgen um neun gehts weiter."
Und dann
stand ich auf, verließ den Seminarraum, leicht gebeugt wegen meiner
Kopfschmerzen, und überlegte, wie ich an ein Glas Weißwein und ein
Aspirin kommen würde, oder an zwei.
Rebibbia
ahoi.
mit
glasigen augen verfolge ich auf dem kleinen fernseher die dünne
schwarze linie die unverrückbar und platt ein hitzewochenende für
mittelitalien bedeutet. ich drehe mich langsam. die augen meiner
freunde sind ausgeschaltet die enttäuschung ist groß. übrigens war
heute früh der wetterbericht der marine mehr aufs vielleicht
ausgerichtet. schien irgendeine möglichkeit offenzulassen: eine leichte
störung vom biskaya-golf kommend könnte möglicherweise mittel- und
süditalien beeinflussen. mögliche wetterveränderungen. die italienische
marine war unsere hoffnung gewesen. das stelle man sich einmal vor
es
ist halb acht uhr abends. alle da. zu acht in den krematoriumsofen der
zelle gesteckt. fenster offen scheißhaustür offen gucklochklappe offen:
keine kleinste luftbewegung. die papiervögel (resultat kreativer
winterlicher augenblicke) mit fäden am überboden befestigt bewegen sich
seit einen monat / so stillstehen können! / nicht mehr
jedes
blatt steht still, wenn gott es will - sagen sie - da bleibt nichts
übrig als auf ein handfestes zeichen gottes zu hoffen; zu hoffen er
könne auch andersrum. logischer schluß. wenn man es mit einer gruppe
praktizierender atheisten zu tun hat kann so etwas ohne weiteres auf
einen hitzschlag schließen lassen. keine angst; es ist so
wenn
der römische sommer kommt (nach vier jahren untersuchungshaft) stellt
der häftling also fest daß das der vierte sommer im gefängnis ist hofft
daß es nicht auch noch zu einem fünften kommen wird und führt zwei
vivisektionen an sich durch. die erste: die außenwelt endgültig /
gleichzeitig nur vorläufig / auslöschen. diese radikale operation läuft
/ meistens / unbewußt ab. schritt für schritt werden mit dem aufmarsch
der warmen tage dubiose wörter wie meer berge seen fluß baum blumen
wiesen aus den gesprächen gestrichen. keiner darf und kann sie
aussprechen. andererseits: es genügt ein nichts: die freunde und die
übliche postkarte aus indien ein echter schmetterling der von
werweißwoher kommt ein strand kombiniert mit hüftfleisch oder busen
einer frau (wenn auch im blaugrau des fernsehers). und die geduldige
verdrängungsarbeit von tagen und tagen und nächten verschwindet im
nichts. und dann: taumeln torkeln tänzeln trudeln. du weißt: im sommer
80 saß ich in einem spezialgefängnis. ein inhaftierter genosse der seit
12 jahren hinter gittern saß und trotzdem leicht brigatistisch war
sagte mir: die frauen sind eine erfindung des kapitals um die
kommunisten zu vernichten. heilige worte! nur daß mir damals diese
these in ihrer selbstverständlichkeit etwas überflüssig erschien.
tatsache war ja auch daß ich erst seit sechs monaten saß
die
zweite vivisektion ist die: sich davon überzeugen daß man nicht ein
mensch ist sondern ein gegenstand (wenn auch einer in bewegung). ich
bin kein mensch - wiederholt man vor sich hin - sondern ein ziegel ein
stück stein eine tür ein stuhl. diese gegenstände spüren die hitze
nicht. ich auch nicht. normalerweise funktioniert so etwas für einige
tage, dann bricht auch hier alles in einem einzigen augenblick
zusammen. falls einer den ganzen tag ein angenehmes gefühl von bewegung
beimischen will kann er natürlich sagen: ich bin ein zug eine
straßenbahn ein luftkissenboot ein hubschrauber. das resultat bleibt
sich das gleiche
was also tut man in rebibbia wenn man nicht mehr weiß was tun?
wenn
in roma-urbe 38 in roma fiumicino 36 grad gemessen werden? wenn man in
den zellen leicht auf vierzig grad kommt? nichts; und eher ungern
briefe schreiben, wie zum beispiel diesen hier
nehmen wir an
einer von euch da draußen würde guten willen zeigen und vorschläge
machen; in der richtung: man kann ja auch den ganzen tag im freien
bleiben. man sieht ihr habt keinen tau / auch so ein wort /. grad wenns
richtig heiß wird macht der gefangene seinen bewachern angst. wie soll
er es aushalten ohne zu rebellieren schreien protestieren? kann sogar
sein daß in der ganzen bude das wasser fehlt. aber der häftling ist
kein mensch er ist ein tier ein wildes. oder besser: er ist ein mensch,
der „gegen das gemeinwesen sich verfehlt hat und der überwacht und
gebessert werden muß“
also tuts ihm ganz gut auf jeden fall ein
wenig zu leiden zu haben. vor allem unter der hitze. besser noch wenn
er schon im voraus und ohne verurteilung untergemacht wird, er merkts
sichs genauer
noch immer einer von euch da draußen; fragt dich:
habt ihr keinen kühlschrank? nein. aber an die frische luft geht ihr
wenigstens? ja zweimal am tag für insgesamt viereinhalb stunden in
einem hof voller staub ohne irgendsoetwas wie wasser / seit ein paar
tagen haben sie uns eine pumpe gegeben, die einen faden wasser liefert /
andererseits
/ trotzdem / ist die moral gut. irgendwie arbeiten wir an der
politischen lösung unserer probleme und dann erreicht man die zeit nach
dem abendessen; irgendwie
ab hier wird das spiel erst richtig hart
die
ziegel von rebibbia / untertags so richtig aufgeheizt / geben ganz
freizügig die hitze wieder her. von ihnen kann man alles haben sie sind
die einzigen mit diesem vorzug. In solchen augenblicken ist es
besonders schwierig es zu keinen überreaktionen kommen zu lassen; die
zwanzig tage isolationshaft sollten vermieden werden. es heißt daß es
dort noch heißer ist; und es ist wahr. wers nicht glaubt, solls
ausprobieren
an dieser stelle verrate ich / dem ders liest /
einen tip für die zeit nach dem abendessen. nimm ein abenteuerbuch oder
/ besser noch / einen historischen roman der einer feinfühligen
psychologischen analyse nicht entbehrt ein paar intime details liefert
/ immer aber ohne erotische einzelheiten das kann fatal sein /. setz
dich genau dort hin wo du mit katzigen nachforschungen einen hauch von
luftzug entdeckt zu haben glaubst / es ist allerdings nicht genug das
ein für allemal zu machen: jeder abend ist anders und jeder lufthauch
/. wichtig ist vor allem daß tv läuft, tonmäßig nicht zu laut.daß das
programm dumm leicht und einigermaßen aufgereizt ist: ein leichtes
musikfestival vom typ lignano sabbiadoro dient dem zweck; zum schluß
wird der telegatto an den besten verkäufer verschenkt / auf diese weise
bleibt man immer informiert /
zu viert / eingeschlossen in den
zellenofen / kann man miteinander reden. aber: wenig mit ruhe ohne sich
zu bewegen langsam. Ein kurzes beispiel
erster häftling: warum um alles in der welt ist heuer die berté nicht bei dem festival dabei?
zweiter
häftling / nach einer halben stunde / : loredana hat sich entschlossen
ein jahr lang leicht zurückgezogen zu leben nach den letzten
anstrengungen um die suche nach neuen musikalischen
ausdrucksmöglichkeiten weiterzubringen; sie ist dabei sich einen
fetteren sound zuzulegen
dritter häftling / nach einer halben
stunde / : auf jeden fall haben wir noch immer die rettore die io ho te
singt. muß euch reichen
vierter häftling / nach einer halben
stunde / : und der giurato wenn er ich will ein taucher sein um immer
wieder aufs neue aus dem wasser heraus an der luft zur welt zu kommen?
ich bin begeistert
antwort: scheiße
erster häftling: wenn
du nicht sofort mit dem scheißdreckgerede aufhörst laß ich mich
umdrehen von der polizei wie der genosse sandalo der jetzt am meer
sitzt mit seiner mutter und dreißig unterwassercarabinieri die ihn
bewachen
die hitze steigt uns zu kopf. in den kopf
hat auch keinen sinn dir sonst noch etwas zu sagen
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