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Stand 09.02.2010



Weißwein und Aspirin


Hirnrissige Geschichten
Diogenes Taschenbuch, 2002







Weißwein und Aspirin

Die Kopfschmerzen waren schon dagewesen, bevor ich den Raum betreten hatte. Die Klimaanlage machte alles nur noch schlimmer. Drei Stunden, das wußte ich, würde ich aushalten müssen. Dann ein Glas Weißwein und ein Aspirin, und Hoffen. Hoffen, es bald überstanden zu haben.

Entsprechend unkonzentriert war ich. Stellte, nachdem ich meine drei ersten Sätze gesagt hatte, mitten im vierten, fest, daß ich nicht mehr wußte, wovon im ersten die Rede gewesen war.
Zweieinhalb Stunden noch, eine Qual. Aber gutes Geld, das ich mir eben ersitzen mußte. Ich hatte ein Seminar zu halten, zwanzig Studenten hatten ein Seminar zu besuchen. Wir waren schon vor einiger Zeit stillschweigend übereingekommen, uns das Leben gegenseitig so erträglich wie möglich zu machen. Deswegen fragte auch keiner nach, was ich mit dem, was ich sagte, eigentlich meinte. Weswegen ich auch nicht darüber nachdenken mußte. Was wiederum meinen Kopf freute.
Daß ich meine Kopfschmerzen schließlich vergaß, solange, bis sie weg waren, verflogen, lag an der Geschichte. Einer Geschichte, die plötzlich, ohne Vorwarnung, da war, sich in den Raum gesetzt hatte.
Gesprochen wurde die Geschichte von einer Studentin, keine zwanzig Jahre alt, grünbuntes Haar, Deutsch mit schweizer Einschlag, Türkin, noch nicht durch besondere Strebsamkeit aufgefallen. Sie hatte eine Geschichte erzählt bekommen.

 

Es lebte in Stambul ein weitum berühmter Professor für Alte Stambuler Geschichte. Ein ruhiger, in langen Sätzen und mit den Händen sprechender Gelehrter alter Zeiten, ein Mann, der gerne gut aß und trank und den Tänzerinnen zusah dabei. Der Professor litt seit Jahren unter den immergleichen, ihn immer begleitenden Kopfschmerzen. Er lebte leise lächelnd damit, und aß und trank und sah dabei den Tänzerinnen zu.
Bis die Kopfschmerzen eines Tages stärker wurden. Sagte der Professor. Und wußte, daß es nicht die Kopfschmerzen waren, die stärker, sondern er, der schwächer geworden war. Weil er an Essen und Trinken und Tänzerinnen immer weniger Freude hatte. "Das Alter", sagte er zu seinem Freund, dem Arzt.
"Dann werden wir uns eben einbilden", sagte sein Freund, der Arzt, "daß in der Kunst die wahren Freuden des Lebens liegen."
Die Kopfschmerzen des Professors wurden von Tag zu Tag unerträglicher, so unerträglich, daß er grau wurde im Gesicht. Er ging zu seinem Freund, dem Arzt, und sagte: "Hilf mir."

Sein Freund, der Arzt, war ein Arzt just für alle Fälle, in denen der Kopf Schwierigkeiten macht. Er klebte Drähte auf den Kopf seines Freundes, schloß sie an einen Apparat an, zeichnete sein Hirn in Linien auf Papier, ließ ihn an Essen und Trinken und Tänzerinnen denken und verglich die neuen Linien mit den alten, er schob seinen Freund, den Professor für Alte Stambuler Geschichte, in eine Röhre und sah sich seinen Kopf auf einem Schirm von innen an, scheibchenweise, und als der Professor sein Hirn in Scheibchen und in Farbe auf dem Computermonitor sah, wurde er noch grauer im Gesicht und verließ wortlos die Klinik und trank den Rest des Tages Raki und wurde traurig.
Am nächsten Tag schickte ihn sein Freund, der Arzt, zu einem anderen Arzt. Dem Professor wurden Dutzende von Fragen gestellt und er beantwortete sie alle, freundlich und geduldig, in der Hoffnung, daß es seinem Kopfschmerz abhelfen würde. Aber es half nicht. "Im Kopf sind Sie noch ganz in Ordnung für Ihr Alter", sagte der Arzt. "Ich würde mir keine Sorgen machen, Ihr Geist ist nicht defekt."
Und der Professor wurde von seinem Freund, dem Arzt, zu weiteren Ärzten geschickt, und immer wieder ließ sein Freund, der Arzt, sein Hirn Linien auf Papier zeichen, und der Professor sagte: "Schade ums Papier, welche schönen Dinge könnte man darauf schreiben, Buchstaben, Worte, Sätze. Und nicht nur Linien", und die Wochen vergingen damit und die Monate, bis der Arzt, sein Freund, sagte: "Ich kann nichts finden, lieber Freund. Und ich kann es dir nicht erklären."
"...und meine Kopfschmerzen kannst du mir auch nicht nehmen", sagte der Professor. "Wir haben alles versucht", sagte der Arzt, "mir fällt nichts mehr ein."
Da stand der Professor wortlos auf und ging und trank den Rest des Tages und die Nacht lang Raki und wanderte von einer Bar zur anderen. Als ihn sein Freund, der Arzt, endlich in einer Hafenbar gefunden hatte, nahm er ihn an der Hand und sagte: „Eine Möglichkeit, Liebster. Wir haben noch eine Möglichkeit."
Und er nahm den Professor mit und legte ihn schlafen. Und als der Professor wieder aufwachte, sagte sein Freund, der Arzt. "Ich werde deinen Kopf aufschneiden, und nachsehen. Vielleicht finde ich doch etwas."
Und der Professor sah ihn an, nickte dann und sagte: "Tu das."

Und als der Freund des Professors, der Arzt, von dem man wissen muß, daß er ein weitum berühmter Hirnchirurg war, den Schädel seines Freundes geöffnet hatte, entfuhr ihm ein erstauntes Ahhh. Dann sah er sich den geöffneten Schädel von allen Seiten an, näherte sich langsam und vorsichtig dem Hirn seines Freundes, und schleckte es dann ab. Dann sagte er: "Ist gut, machen wir ihn wieder zu", und gab seinen Assistenten einen Wink.

Als sein Freund, der Professor, aus der Narkose erwachte, sagte er: "Und, wie sieht es aus?" "Gut", sagte der Arzt, "du wirst keine Kopfschmerzen mehr haben." "Das ist schön", sagte der Professor, "und, was wars?" "Ein Haar", sagte der Arzt. "Ein Haar?" "Da war ein Haar, das auf deinem Hirn lag, eineinhalb Zentimeter lang, mein Freund. Es muß durch die Nase und die Stirnhöhle bis auf die Dura gewandert sein." "Dura?" sagte der Professor. "Hirnhaut", sagte der Arzt, "und da hat dir das Haar wehgetan. Jetzt ist es weg." Der Professor lächelte und sagte: "Du bist ein Freund."

Wochenlang lebte der Professor für Alte Stambuler Geschichte und hatte seine Kopfschmerzen schon längst vergessen, das Grau war aus seinem Gesicht verschwunden und man sagte, er ist wieder ganz der Alte, bis auf die Tänzerinnen, aber das wird auch noch werden, als man den Arzt rief. Man hatte seinen Freund im Rakirausch auf der Straße liegend gefunden.
"Ich weiß auch nicht, wieso", sagte der Professor zu seinem Freund. Und auch beim nächsten Mal wußte er nicht, wieso.
Erst als er Tag und Nacht wach war und Tag und Nacht Raki trank, fiel ihm ein, wieso. "Mein Arzt und Freund", sagte er zu seinem Freund, dem Arzt, "ich kann nicht schlafen. Ich träume. Ich träume jede Nacht von einer Zunge, die mein Hirn leckt. Dann wache ich auf. Und dann spüre ich eine Zunge, die mein Hirn leckt. Langsam und Zentimeter für Zentimeter. Manchmal hilft der Raki, und dann spüre ich nichts mehr. Aber er hilft immer weniger."
"Gehen wir Raki trinken", sagte der Arzt. Und als sie vor dem Raki saßen, sagte der Arzt zu seinem Freund, dem Professor für Alte Stambuler Geschichte: "Ich habe es abgeschleckt, dein Haar. War einfacher und sicherer, als es mit einem scharfen Instrument zu entfernen. Tut mir leid." Und der Professor küßte seinen Freund, den Arzt, und umarmte ihn.

 

"Gut", sagte ich und sammelte meine Papiere ein, die ich sinnloserweise vor mir ausgebreitet hatte, "morgen um neun gehts weiter."

Und dann stand ich auf, verließ den Seminarraum, leicht gebeugt wegen meiner Kopfschmerzen, und überlegte, wie ich an ein Glas Weißwein und ein Aspirin kommen würde, oder an zwei.






Rebibbia


ahoi.

mit glasigen augen verfolge ich auf dem kleinen fernseher die dünne schwarze linie die unverrückbar und platt ein hitzewochenende für mittelitalien bedeutet. ich drehe mich langsam. die augen meiner freunde sind ausgeschaltet die enttäuschung ist groß. übrigens war heute früh der wetterbericht der marine mehr aufs vielleicht ausgerichtet. schien irgendeine möglichkeit offenzulassen: eine leichte störung vom biskaya-golf kommend könnte möglicherweise mittel- und süditalien beeinflussen. mögliche wetterveränderungen. die italienische marine war unsere hoffnung gewesen. das stelle man sich einmal vor

es ist halb acht uhr abends. alle da. zu acht in den krematoriumsofen der zelle gesteckt. fenster offen scheißhaustür offen gucklochklappe offen: keine kleinste luftbewegung. die papiervögel (resultat kreativer winterlicher augenblicke) mit fäden am überboden befestigt bewegen sich seit einen monat / so stillstehen können! / nicht mehr

jedes blatt steht still, wenn gott es will - sagen sie - da bleibt nichts übrig als auf ein handfestes zeichen gottes zu hoffen; zu hoffen er könne auch andersrum. logischer schluß. wenn man es mit einer gruppe praktizierender atheisten zu tun hat kann so etwas ohne weiteres auf einen hitzschlag schließen lassen. keine angst; es ist so

wenn der römische sommer kommt (nach vier jahren untersuchungshaft) stellt der häftling also fest daß das der vierte sommer im gefängnis ist hofft daß es nicht auch noch zu einem fünften kommen wird und führt zwei vivisektionen an sich durch. die erste: die außenwelt endgültig / gleichzeitig nur vorläufig / auslöschen. diese radikale operation läuft / meistens / unbewußt ab. schritt für schritt werden mit dem aufmarsch der warmen tage dubiose wörter wie meer berge seen fluß baum blumen wiesen aus den gesprächen gestrichen. keiner darf und kann sie aussprechen. andererseits: es genügt ein nichts: die freunde und die übliche postkarte aus indien ein echter schmetterling der von werweißwoher kommt ein strand kombiniert mit hüftfleisch oder busen einer frau (wenn auch im blaugrau des fernsehers). und die geduldige verdrängungsarbeit von tagen und tagen und nächten verschwindet im nichts. und dann: taumeln torkeln tänzeln trudeln. du weißt: im sommer 80 saß ich in einem spezialgefängnis. ein inhaftierter genosse der seit 12 jahren hinter gittern saß und trotzdem leicht brigatistisch war sagte mir: die frauen sind eine erfindung des kapitals um die kommunisten zu vernichten. heilige worte! nur daß mir damals diese these in ihrer selbstverständlichkeit etwas überflüssig erschien. tatsache war ja auch daß ich erst seit sechs monaten saß

die zweite vivisektion ist die: sich davon überzeugen daß man nicht ein mensch ist sondern ein gegenstand (wenn auch einer in bewegung). ich bin kein mensch - wiederholt man vor sich hin - sondern ein ziegel ein stück stein eine tür ein stuhl. diese gegenstände spüren die hitze nicht. ich auch nicht. normalerweise funktioniert so etwas für einige tage, dann bricht auch hier alles in einem einzigen augenblick zusammen. falls einer den ganzen tag ein angenehmes gefühl von bewegung beimischen will kann er natürlich sagen: ich bin ein zug eine straßenbahn ein luftkissenboot ein hubschrauber. das resultat bleibt sich das gleiche

was also tut man in rebibbia wenn man nicht mehr weiß was tun?

wenn in roma-urbe 38 in roma fiumicino 36 grad gemessen werden? wenn man in den zellen leicht auf vierzig grad kommt? nichts; und eher ungern briefe schreiben, wie zum beispiel diesen hier

nehmen wir an einer von euch da draußen würde guten willen zeigen und vorschläge machen; in der richtung: man kann ja auch den ganzen tag im freien bleiben. man sieht ihr habt keinen tau / auch so ein wort /. grad wenns richtig heiß wird macht der gefangene seinen bewachern angst. wie soll er es aushalten ohne zu rebellieren schreien protestieren? kann sogar sein daß in der ganzen bude das wasser fehlt. aber der häftling ist kein mensch er ist ein tier ein wildes. oder besser: er ist ein mensch, der „gegen das gemeinwesen sich verfehlt hat und der überwacht und gebessert werden muß“

also tuts ihm ganz gut auf jeden fall ein wenig zu leiden zu haben. vor allem unter der hitze. besser noch wenn er schon im voraus und ohne verurteilung untergemacht wird, er merkts sichs genauer

noch immer einer von euch da draußen; fragt dich: habt ihr keinen kühlschrank? nein. aber an die frische luft geht ihr wenigstens? ja zweimal am tag für insgesamt viereinhalb stunden in einem hof voller staub ohne irgendsoetwas wie wasser / seit ein paar tagen haben sie uns eine pumpe gegeben, die einen faden wasser liefert /

andererseits / trotzdem / ist die moral gut. irgendwie arbeiten wir an der politischen lösung unserer probleme und dann erreicht man die zeit nach dem abendessen; irgendwie

ab hier wird das spiel erst richtig hart

die ziegel von rebibbia / untertags so richtig aufgeheizt / geben ganz freizügig die hitze wieder her. von ihnen kann man alles haben sie sind die einzigen mit diesem vorzug. In solchen augenblicken ist es besonders schwierig es zu keinen überreaktionen kommen zu lassen; die zwanzig tage isolationshaft sollten vermieden werden. es heißt daß es dort noch heißer ist; und es ist wahr. wers nicht glaubt, solls ausprobieren

an dieser stelle verrate ich / dem ders liest / einen tip für die zeit nach dem abendessen. nimm ein abenteuerbuch oder / besser noch / einen historischen roman der einer feinfühligen psychologischen analyse nicht entbehrt ein paar intime details liefert / immer aber ohne erotische einzelheiten das kann fatal sein /. setz dich genau dort hin wo du mit katzigen nachforschungen einen hauch von luftzug entdeckt zu haben glaubst / es ist allerdings nicht genug das ein für allemal zu machen: jeder abend ist anders und jeder lufthauch /. wichtig ist vor allem daß tv läuft, tonmäßig nicht zu laut.daß das programm dumm leicht und einigermaßen aufgereizt ist: ein leichtes musikfestival vom typ lignano sabbiadoro dient dem zweck; zum schluß wird der telegatto an den besten verkäufer verschenkt / auf diese weise bleibt man immer informiert /

zu viert / eingeschlossen in den zellenofen / kann man miteinander reden. aber: wenig mit ruhe ohne sich zu bewegen langsam. Ein kurzes beispiel

erster häftling: warum um alles in der welt ist heuer die berté nicht bei dem festival dabei?

zweiter häftling / nach einer halben stunde / : loredana hat sich entschlossen ein jahr lang leicht zurückgezogen zu leben nach den letzten anstrengungen um die suche nach neuen musikalischen ausdrucksmöglichkeiten weiterzubringen; sie ist dabei sich einen fetteren sound zuzulegen

dritter häftling / nach einer halben stunde / : auf jeden fall haben wir noch immer die rettore die io ho te singt. muß euch reichen

vierter häftling / nach einer halben stunde / : und der giurato wenn er ich will ein taucher sein um immer wieder aufs neue aus dem wasser heraus an der luft zur welt zu kommen? ich bin begeistert

antwort: scheiße

erster häftling: wenn du nicht sofort mit dem scheißdreckgerede aufhörst laß ich mich umdrehen von der polizei wie der genosse sandalo der jetzt am meer sitzt mit seiner mutter und dreißig unterwassercarabinieri die ihn bewachen

die hitze steigt uns zu kopf. in den kopf

hat auch keinen sinn dir sonst noch etwas zu sagen



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cover
















Vino bianco e aspirina
traduzione italiana


Textprobe