kurt lanthaler
fanes.textverarbeitende manufactur





Bücher
    Das Delta
    : himmel & hoell
    Napule
    Weisswein und Aspirin
    Offene Rechnungen
    Azzurro
    Heisse Hunde
    Herzsprung
    Grobes Foul

    Der Tote im Fels
    Diversa

Annotate

Goldfishs Reisen
Übersetzungen
Theater, Oper, Hörspiel, Film
Installationen, Bilder, Objekte

italiano
ladin
ελληνικά

dansk
english


BioBibliographie
Termine / Lesungen
Impressum









mail
Stand 09.03.2010



Azzurro

Roman. Haymon Verlag, 1998. Diogenes Taschenbuch, 2001




Was ist schon Schwimmen? Keine Kunst! Ertrinken!
(An A.T., aus Ouranopoli)



Kapitel I

Uarda lu mari comu si sta confia,
sta rriva la burrascka

Die Uranus lief bei schwerer See und Windstärke Zehn aus Nordwest einen Westkurs auf Grönland, als ich über Bord ging.
Eben hatte ich noch das Fanggeschirr festgezurrt. Wir wären es sonst innerhalb der nächsten Minuten losgeworden. Ich war froh, gleich wieder unter Deck gehen zu können, als mich ein Brecher von den Füßen holte.
Ich fiel, und im Fallen schrie ich um Hilfe. Zum ersten Mal in meinem Leben und deshalb so laut wie nie zuvor und in der Hoffnung, daß von dem Glück, das einem fürs Leben zugeteilt ist, noch ein möglichst großer Rest geblieben war.
Als ich auf das Wasser schlug und die schwarze See sich über mir schloß, war es urplötzlich still um mich herum. Kein pfeifender Wind mehr, keine tosenden Brecher, kein Ächzen von Metall und kein Stampfen der Maschine. Stille. Dann ein leises Rauschen in meinem Kopf. Wenn, dachte ich, wenn da keiner ist, sobald du auftauchst, wenn da kein Rettungsring ist, keine Leine, wenn keiner dich bemerkt hat, wenn niemand dich vermißt, dann sei froh, daß du niemals richtig schwimmen konntest. Und halt dich an die alte Seemannsregel. Lieber sofort absaufen und runtergehen wie ein Stein, als Stunden später jämmerlich erfrieren.
Aber ganz konnte ich das Leben doch nicht lassen. Also ließ ich mich mit emporreißen, schoß aus dem Wasser, holte hustend Luft und öffnete die Augen. Ich sah den Wasserberg vor mir und mir kamen andere Berge in den Sinn, Jahre, daß ich sie nicht mehr gesehen hatte, glaubte dann einen roten Fleck entdeckt zu haben, irgendwo. Rot, das mußte Rettung sein. Eine Schwimmweste, ein Rettungsreifen. Aber der zweite Blick, der dritte, vierte, konnte kein Rot mehr finden, links nicht, vorneaus nicht, nirgendwo. Schwarz das Wasser, grau die Luft. Ich hatte mich geirrt. Und schluckte wieder Wasser. Da stieg die Uranus vor mir auf und rollte über. Und als ich schreien wollte, hörte ich den Schrei.
Es war nicht meiner. Ich redete mir ein: Das ist nicht deiner, das warst du nicht, nicht du. Da ist wer andrer. Nur war da keiner. Da war nur ich. Und Wasser. Und das Meer. Mehr nicht. Und wieder lag ich in dem tiefen Tal und ringsherum nur Wellen, hohe See. Ich nahm ein maulvoll Wasser. Und... :, dachte ich, adieu.



Kapitel X

Aber im entscheidenden Augenblick
Verlassen uns Kühnheit und Entschlossenheit
(Konstantinos Kavafis)

(...)
Ich war so lange durch die Gassen am Hafen gelaufen, bis es hell geworden war. Es wurde nichts besser dadurch, nur sichtbarer.
Trieste war früher einmal vielleicht ein großer Hafen gewesen. Viel war davon nicht mehr übrig. Ein paar verwaschene Aufschriften, Schrotthalden, abgewrackte Kähne. Dazwischen Touristen-Abwickel-Anlagen. Und die verzweifelten, EU-geförderten Bemühungen, das alles anders zu machen. Es wurde Zeit für meinen Frühstücks-Espresso.

(...)
Mit jedem Schritt, mit dem ich dem Schrott, hinter denen ich die Linee Adriatiche finden sollte, näher kam, mit jedem Schritt verstand ich den Alten besser. Und gab, zumindest hier und heute, meiner seefahrerischen Zukunft laufend weniger Chancen.
Als ich endlich vor der wackeligen Baracke stand, an der hochkant ein Schild lehnte, auf dem man mit viel gutem Willen driatiche entziffern konnte, klopfte ich nur noch an, um zu sehen, wie der Alte Recht behalten würde.
Die Tür war nur angelehnt. Sie schwang quietschend auf, von innen war so etwas wie ein Brummen zu hören. Ich trat ein.
Hinter einem von Pizzakartons, Bierdosen und Papieren überquellenden Tisch in der Mitte der dunklen Baracke saß ein Mann, der versuchte, etwas Ordnung in seine querstehenden Haare zu bekommen.
Er sah mir ganz danach aus, als ob er bis eben, in der Rechten die Ginflasche, Kopf auf der Tischplatte, im Sitzen geschlafen hätte. Ein junger Mann, der die letzten zwei Jahre fünfzehn Kilo zugenommen hatte. Graue Tränensäcke, das leichte Rot einer anständigen Menge Restalkohols auf den Wangen und das zitternde Verlangen in seinen Fingern. Ein junger Mann, der seine Zukunft schon so weit hinter sich hatte, daß es sinnlos war, sich danach umzudrehen. Und man sah ihm an, daß er das wußte.
Genauso, wie ich meinen Seesack darauf verwettet hätte, daß das telefonino, das in Italien Telefönchen genannte Funktelefon, das auf den Resten einer pizza diavola trohnte, schon seit ewigen Zeiten gesperrt war.
„Buon giorno", sagte ich, zog mir, neugierig geworden, einen Stuhl von der Wand an den Tisch, stellte meinen Seesack ab und setzte mich.
Während ich abwartete, daß sich der junge Mann langsam und ächzend zu den Resten seines Bewußtseins durchkämpfte, sah ich mich um. Und sah die Überbleibsel vergangener Herrlichkeit. Das Schwarzweißbildnis eines energisch von der Wand auf das Desaster blickenden Herren, in dem ich ein Abbild des Signor Bentivoglio vermutete. Technicolorfarbene Plakate, auf denen stolze Schiffe prangten. Und stolzer noch, darüber, der weich geschwungene Schriftzug: Linee Adriatiche. Società Anonima di Navigazione. Trieste. Linee Italiane per Tutto il Mondo. Es hatte sie also wirklich gegeben. Vor ewigen Zeiten. Die Anonyme Seefahrtsgesellschaft. Die für und in die Ganze Welt fuhr.
Tempi passati, wie der Italiener zu sagen pflegt. Und wenn er das sagt, tut er es meist mit einem kaum unglücklich zu nennenden Achselzucken. Was vorbei ist, kann keinen Ärger mehr machen.
Dann war der junge Mann endlich bei sich angekommen, raffte sich, Unverständliches von sich gebend, auf, stützte sich an der Tischkante ab und stemmte sich hoch.
„Buon giorno", sagte ich, „cercavo il signor Bentivoglio e le Linee Adriatiche."
Sich immer noch an der Tischkante abstützend, versuchte der junge Mann zu verstehen, was ich gesagt hatte.
Dabei war das einfach. Ich hatte ihm freundlich einen guten Morgen gewünscht und erklärt, nach dem Herren Bentivoglio und seinen Linee Adriatiche zu suchen.
„Ich", sagte der junge Mann da, plötzlich laut aus sich herausbrechend, „ich bin Signor Bentivoglio."
Er hatte es sogar gewagt, eine Hand vom Tisch zunehmen und einen großen Bogen durch die Luft zu ziehen damit.
„Sehr schön", sagte ich. „Gibt es hier noch einen anderen Signor Bentivoglio?"
Mir wollte es nicht in den Kopf, daß die beiden ewigen Verlobten mich an dieses Wrack weiterreichen gewollt hatten.
„No", sagte der junge Mann, griff umstandshalber mit einer halb panisch, halb fahrigen Bewegung wieder nach dem Schreibtisch, der daraufhin leicht in Bewegung geriet, für Bruchteile einer Sekunde nur, aber lange genug, damit sich Angst in seinem Gesicht breitmachte.
„Sie sind jung", sagte ich.
„Ja", sagte er. „Was nur heißt, daß ich nicht bescheißen kann. Um seinen eigenen Sohn bescheißen zu können, und das ist die Krönung von Beschiß, wie Sie vielleicht wissen, muß man ein alter, geiler Bock sein. So einer wie der vecchio signor Bentivoglio."
Ich sagte nichts.
„Sie haben ihn gekannt?" sagte er, und einen Augenblick lang waren seine Augen wach geworden.
„Ich? Nein. Leider. Ihrer Beschreibung nach muß er ein interessanter Mensch sein."
Der junge Mann ließ etwa einen halben Liter Luft ab, pfeifend über die Schneidezähne.
„Ja. Das sieht die ganze Welt so. Nur ich kann das nicht so sehen."
„Er wurde mir in Vicenza von Freunden empfohlen. Zusammen mit seinem Betrieb", sagte ich. „Ich bin ..."
Und ich zeigte auf meinen Seesack, der an der Tür lehnte.
„Freunde?" sagte der junge Mann.
„Ältere Herrschaften. Ich glaube, die Dame stammte ursprünglich aus Trieste. Oder hat hier gelebt. Vor dem Krieg."
„Goldene Zeiten", sagte der junge Mann, „sehen Sie sich um. Da hängt, was davon noch übrig ist."
Und damit löste er sich vom Tisch, schüttelte den Kopf und ging, plötzlich mit einer bemerkenswerten Körperbeherrschung, auf die Wand zu, riß das Bild seines alten Herren von der Wand, ging an die Barackentür, öffnete sie und warf das Bild hinaus. Dann drehte er sich wieder zu mir um.
„Ich hätte es früher tun sollen", sagte er, „vor zehn Jahren. Aber das wird Ihnen ziemlich gleichgültig sein. Entschuldigen Sie."
Er machte sich wieder auf den Weg zurück an den Tisch.
Hielt mitten im Schritt inne, drehte sich nach links, ging an die Seitenwand der Baracke, griff nach den Plakaten der Linee Adriatiche und zerriß sie in kleine Streifen.
„Ecco", sagte er, „das war’s. Das waren die berühmten Linee Adriatiche."
Er ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen, einen Augenblick lang fürchtete ich um dessen Statik, dann griff er nach seinem Krawattenknopf und richtete ihn aus, äußerst penibel und wie mit dem Lot, zupfte an Hemd, Hose und Jacket, polierte die Manschettenknöpfe, und klemmte ein Büschel widerspenstiger Haare hinter sein Ohr. Bohrte sich langsam mit beiden Armen in geradem Weg nach vorne durch die Berge auf seinem Schreibtisch, atmete kurz ein, und fegte mit dem linken Arm links und mit dem rechten Arm rechts alles zu Boden, was sich in Jahrhunderten vor ihm angesammelt hatte.
„So", sagte er dann, zog die Hemdärmel mit spitzen Fingern wieder an ihren Platz, „was können wir für Sie tun?"
„Ich bin Seemann und wollte bei Ihnen anheuern", sagte ich. „Eigentlich. Ursprünglich."
Er streckte das linke Handgelenk nach vorne, lange genug, um einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen.
„Vediamo", sagte er, „lassen Sie uns sehen, was wir da haben."
Lehnte sich zurück in den Stuhl, hob den Kopf zur Barackendecke und dachte nach.
„Bene", sagte er.
Und sagte nichts weiter.
Ich wartete ab.
„Seemann ...", sagte er, „was haben wir da?"
Ich hielt den Atem an. Besser, ihn bei seinen nach oben gewandten Betrachtungen nicht zu stören.
„Ein Schiff?" sagte er.
Nur weil er den Blick wieder in die Waagrechte genommen hatte, traute ich mich, ihm zu antworten.
„Ein Schiff für einen Seemann", sagte ich, „das wär nicht schlecht."
„Ein Schiff ...", sagte er, und ich hatte den überdeutlichen Eindruck, daß er mich nicht gehört hatte, „naja, vielleicht läßt sich da etwas machen."
Ich versuchte es probeweise damit, aufzustehen und nach meinem Seesack zu greifen.
„Setzen Sie sich!" schrie er mich an. „Setzen!"
Ich tat wie befohlen.
Und dann lachte er los. Langsam erst und leise, dann immer gewaltiger und atemloser.
Laß ihm Zeit, Tschenett, dachte ich. Du hast es ja nicht eilig.
„Sie sehen ja, was hier los ist", sagte er dann, nachdem er wieder zur Ruhe gekommen war, mit einer Stimme, die daherkam, als würde sie die amtlichen Lottozahlen durchgeben.
„Ich weiß nicht, was ich sehen soll", sagte ich.
„Die Reste einer Reederei", sagte er, und ich fragte mich, wo er mit einem Mal die Ruhe in seinen Worten hernahm. „Die Reste. Und in ein paar Stunden werden auch die verschwunden sein. Außer ich bestehe darauf, weiterhin in dieser Baracke zu wohnen. Man würde es mir erlauben, glauben Sie mir."
Ich nickte.
„Es regnet durch."
„Keine guten Voraussetzungen, um eine Familie zu gründen und sich zu vermehren", sagte ich.
„Linee Adriatiche war eine große Sache. Als Kind wurde ich in einen Matrosenanzug gesteckt und hielt die Hand meiner Mutter, als sie die Novara II taufte. Mein Vater hatte sich für diesen Tag einen Schnauzer wachsen lassen und ihn wochenlang verborgen vor seiner Umgebung. Ein majestätisches Schiff, unsere Novara II. Und ein großer Name. Sie kennen die Geschichte?"
„Leider nein."
„Die ursprüngliche Novara war das Schiff, das Maximilian und Charlotte nach Veracruz brachte und Maximilians Leiche nach Trieste. Als Kind liebte ich diese Geschichten. Inzwischen liegt die Novara II seit über zehn Jahren in irgendeinem indischen Hafen und wird verschrottet."
Er zog die Schublade auf, holte ein Stück Papier und einen Bleistift heraus.
„Fünf Schiffe hat er in sieben Jahren verschrotten lassen. Macht Millionen Lire für den Schrott und Milliarden Stillegungsprämien von der EG. Vor vier Monaten sagte er, er wolle vererben. Eines von zwei Konten in der Schweiz, Mutters Villa in den colline und die Reederei. Als ich die Papiere in der Hand hatte und er abgereist war, irgendwohin, stellte ich fest, daß die Kontoauszüge gefälscht und die Villa längst verpfändet war. Mir blieb die Reederei. Ich suchte sie also ..."
„Ich weiß", sagte ich, „ist gar nicht so einfach zu finden."
„... und stellte fest, daß von meinem Erbe diese Baracke und ein Frachter geblieben war. Die Splendor. Sie hatte ihm zu Zeiten des Jugoslavienkrieges Hunderte von Millionen eingefahren. Sie zahlen jeden Charterpreis, sagte er, Waffen- und Treibstoffschmuggel. Und natürlich die Wohltätigkeitsorganisationen. Wie verrückt. Die Splendor war mir also noch geblieben. Ohne Krieg zwar in der näheren Umgebung und damit nur halb soviel wert, aber immerhin. Für ein oder zwei Jahre sollte es reichen, die EG würde dafür sorgen. Ich habe alle Papiere ausgefüllt und einem Abgeordneten, den ich vom Yachthafen her kenne, einen schönen Urlaub bezahlt. Und warte auf die Antwort aus Brüssel. Warte. Und was muß ich mir vor zwei Tagen sagen lassen?"
„Ich höre."
„Daß ich eine Mannschaft für die Splendor anzuheuern habe, dafür eine Million Lire bekomme, und daß die Splendor dann auslaufen wird und auf Nimmerwiedersehen. Weil Signor Bentivoglio Karten gespielt, verloren und ein entsprechendes Papier unterschrieben hat. Vor einem Monat. In Frankfurt."
Schwerer Schicksalsschlag für einen jungen Menschen.
„Ich hoffe, der geile Bock von meinem Vater erstickt an seinem eigenen Schwanz."
Schwerer Schicksalsschlag, auch für einen älteren Menschen.
„Eine Million Lire sind mir geblieben. Wissen Sie, wieviel das ist?" sagte er.
„Naja", sagte ich, „ein paar Tage muß der Mensch dafür schon arbeiten.
„Oder zweimal essen gehen", sagte er, „wenn ich meine Gewohnheiten zum Maßstab nehme."
„Bedauerlich", sagte ich, „daß Ihre schöne Jugend ein so tristes Ende genommen hat."
„Sie verachten mich, nicht wahr?"
„Mitleid. Nichts als tief empfundenes Mitleid. Und Sympathie. Verbunden mit der Frage, ob es denn noch einen Platz auf dieser historischen Ausfahrt gibt. Und wenn ja, zu welchen Bedingungen."
Der junge Mann und Erbe bückte sich zu Boden, kramte und suchte, und zog schließlich die Ginflasche an sich.
„Ich hätte vielleicht auch Seemann werden sollen", sagte er.
„Sie haben Mutters Hand gehalten, während sie Schiffe taufte. Solche Leute nimmt man nicht an Bord. Das bringt Unglück."
Er senkte langsam zweimal den Kopf.
„Trinken Sie", sagte er dann und hielt mir die Flasche hin, „mit Gläsern, Zigarren und Frauen kann ich zur Zeit leider nicht dienen."
„Es wird auch so noch ein schöner Tag werden", sagte ich. „Habe ich den Job?"
„Wenn Sie wollen", sagte er. „Ich war schon ziemlich verzweifelt. Um an die Million Lire zu kommen, muß ich eine komplette Mannschaft anheuern. Nur: es gibt keine Seeleute mehr in dieser Stadt."
Er lächelte, als ich ihm die Flasche rüberschob.
„Außer Ihnen, natürlich. Und vor allem: es gibt keinen, der auf die Splendid will."
Er hatte mir zwar eben wieder die Flasche zugeschoben, aber ich war trotzdem aufmerksam geworden. Das kennst du, Tschenett, dachte ich.
„Warum?" sagte ich.
„Aberglauben, alte Geschichten, was weiß ich. Seemannsgarn."
Ich sah ihn zweifelnd an. Komm schon, Junge.
„Hunderttausend Lire geb ich Ihnen, wenn Sie anheuern", sagte der junge Mann, „dann fehlen noch drei, aber die Splendid kann trotzdem auslaufen. Soll nach Albanien gehen, soviel ich weiß."
„Warum will keiner mit?" sagte ich.
„Keiner stimmt ja nicht", sagte er, „Käptn, Maschinist und Steuermann sind da, die Stammbesatzung. Zwei von denen leben seit einem Jahr schon auf dem Pott."
Sobald er vergebens versuchte, in die Seemannssprache zu verfallen, wurde er mir unsympathisch.
„Also?"
„Naja", sagte er, „man hält mich für einen ohne coglioni, Sie verstehen?"
Ich sah ihn stumm und regungslos an.
„Einen Verlierer. Und mit so einem fahren nicht einmal die Slowenen. Obwohl ich ja gar nicht auf den Kahn gehen will."
„Zu einem Frachter sagen nur Landratten Kahn", sagte ich.
„Das kommt dazu", sagte er. „Was ist, kann ich mit Ihnen rechnen?"
„Wann geht’s los?"
„Heute morgen", sagte er.
Als ich ihn zweifelnd ansah, brachte er seine Armbanduhr wieder zum Vorschein und sah nach.
„Naja, spätestens mittags."
„In einer Stunde also."
"Oder nachmittags. Ich weiß es nicht."
„Gut", sagte ich, griff mir die Ginflasche und setzte sie an, „eine Stunde kann ich noch sitzen bleiben. Höchstens zwei. Dann wird mich wieder das Reisefieber packen."
„Das heißt, sie tun den Job?"
„Nein", sagte ich, „das heißt, daß ich eben angeheuert habe. Auch wenn’s nicht ganz geheuer ist."
Er lachte.
„Ha ha", sagte ich und stand auf. „In ihrem Lachen klingt zuviel Angst mit. Man kann sie hören. Und riechen. Aber das soll nicht meine Sorge sein. Das Geld ..."
„Sie sind dabei?"
„Das Geld."
Quäl ihn nicht zu sehr, Tschenett, er hat wirklich Schiß.
Wird schon sein. Sonderlich sympatisch ist er auch nicht.
Nur weil du die Leiden Kinder reicher Eltern nicht verstehst.
„Sehen Sie", sagte ich, als er mir endlich, nach langem Hin und Her in den Taschen seinen Jackets und den Schubladen seines Tisches den Schein entgegenhielt, „sehen Sie, es ist vielleicht mehr mein Problem als Ihres. Aber die Kinder reicher Eltern sind mir ein Greuel."
„Auch wenn man sie um ihr Erbe betrogen hat?"
Ich sah kurz in sein in Alkohol und Selbstmitleid zerfließendes Gesicht.
„Besonders dann", sagte ich, drehte mich um und ging dem Ausgang zu. „Und wissen Sie wieso?"
„Sagen Sie es mir."
Seine Stimme war schwach und schwächer geworden, er hielt mir seine Kehle hin und bat um den Biß.
„Weil ich verstehen kann, daß sie leiden." Ich griff mir den Seesack. „Und weil mit meinem Verständnis gerechnet wird."
„Ich brauche noch eine Quittung", sagte er und reckte mir ein Formular hinterher.
"Wo liegt die Splendid?"
Es reichte.
„Backbord."
„Wo?"
Ein falsches Wort noch und ich zünde dir die Bude unterm Hintern an.
„Vier-, fünfhundert Meter links."
„Ich melde mich beim Alten", sagte ich und ging los.
Wenn die Splendid auch nur halb so sehr heruntergekommen war wie der junge Mann, von dem ich mich hatte anheuern lassen, dann war ich jetzt auf dem Weg zu einem Seelenverkäufer.
Dreißig Schritte weit war ich gekommen, als ich ihn hinter mir wieder klagen hörte.
„Nehmen Sie mich mit", rief er, „bringen Sie mir die Seefahrt bei. Ich bezahle Sie dafür."
Ich drehte mich um. Einen letzten Blick hatte er vielleicht doch verdient. Weil wir alle uns einen letzten Blick verdient haben. Nur dafür, daß wir versuchen, zu überleben. Wie elend auch immer.
„Das kann nicht beigebracht werden und bezahlt schon gar nicht."
„Was dann?"
„Man muß es haben. Dann kann es einem auch keiner nehmen."
Jeder von uns hat ein klares Wort verdient. Einmal im Leben.
(...)




Alle hier veröffentlichten Texte unterliegen dem Urheberrecht.
Sie stehen den Nutzern allein zu persönlichen Zwecken zur Verfügung.
Jede darüberhinausgehende Verwertung bedarf der vorherigen Zustimmung des Autors.
Alle hier nicht ausdrücklich eingeräumten Rechte bleiben vorbehalten.
© Copyright der Texte: Haymon Verlag, Diogenes Verlag und Kurt Lanthaler
Gewerblicher Gebrauch nur nach Anfrage beim Autor und Genehmigung des Verlages


 

cover

cover







Azzurro
ελληνικὴ μετάφραση


Textprobe