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Stand 09.03.2010



Der Tote im Fels

Roman.  Haymon Verlag, 1993. Diogenes Taschenbuch, 1999



Kapitel I

Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er tot.
Als ich ihn zum zweiten Mal sah, war er immer noch tot. Und mir ziemlich gefährlich geworden.
In den Tagen dazwischen sollte ich, nicht ganz unfreiwillig und nicht eben im Zustand völliger Unschuld, noch anderes zu sehen bekommen. Genug, um weder die Toten noch die Lebenden zu beneiden.

Der hier war einfach tot. So weit vom Leben entfernt wie sonst nie. Aber was konnte man von dem Mann auch anderes verlangen.
Sie hatten soeben fünf Kubikmeter bestes, massives Alpengestein abgesprengt in diesem Tunnel. Dazu waren sie schließlich da.
Man hatte sie ins Pflerschtal geschickt, um ein Loch durch den Berg zu wühlen. Einen Tag nach dem anderen. Sie hatten den Berg mit kleinen Nadelstichen angebohrt, Sprengstoff hineingestopft. Und die Löcher scharfgemacht. Dann war der Tunnel geräumt worden. Die Druckwelle hatte Staub die Röhre hinausgeblasen. Entwarnung. Sie waren wieder eingerückt, um das Gestein abzubauen. Der Hund am Nachbarshof beruhigte sich wieder. Bis zum nächsten Mal.
Ich hatte das schon oft genug miterlebt auf dieser Tunnelbaustelle.
Weil ich mir hier schon oft genug die Füße platt getreten hatte. Bestellt, und nichts zum Abholen da. Es ist immer dasselbe, langweilige Spiel. Wenn die Fuhrunternehmer so einen wie mich überhaupt anheuern, dann nur, weil sie mit ihren Terminen in ärgsten Schwierigkeiten sind. Dann nehmen sie sogar so ungeliebte Idioten wie mich. Hauptsache, einer schafft es auf die Zugmaschine. Wie, ist egal. Einen solchen Job anzunehmen bedeutet: heute laden und vorgestern abliefern. Und dann bringt irgendein Büromensch die Termine durcheinander. Und man steht gratis stundenlang neben einem leeren LKW, und wartet darauf, daß sie ihn endlich volladen.
An sowas gewöhnt man sich. An anderes nicht.

Diesmal gab es Geschrei. Und alles lief. Richtung Tunnel.
Es ging mich zwar nichts an. Aber schließlich kannte ich einige der italienischen Arbeiter hier ziemlich gut. Vom Kartenspielen her.
Ich lief mit in die Tunnelröhre hinein. Gute fünf Minuten. Ein dunkles Loch. Als wir endlich angekommen waren, lag, am Ende des Tunnels, unter kniehohen Steintrümmern, ein Mann im schwarzen Anzug. Lag da, wo eigentlich nur freigesprengter Felsen liegen sollte.
Viel war von dem Mann zuerst nicht zu sehen. Die Arbeiter räumten mit bloßen Händen die kleineren Felsbrocken zur Seite.
Ich wollte mich nicht einmischen, hier waren sie zuständig. Zeit genug für mich, um genauer hinzuschauen.
Das, was man von dem Mann jetzt erkennen konnte, sah nach einem Abspüler mit dazugehöriger fünfzehnjähriger Karriere in der transalpinen Hotelerie aus. Hoffnungslos gezeichnet. Und so wie's aussah, trug er immer noch seinen Erstkommunionsanzug. Seit zwanzig Jahren. Gestreift, und an den Ärmeln um ein paar Zentimeter zu kurz. Das Gesicht war staubbedeckt. Wie das einer reichlich alternden Dame von einer dicken Puderschicht überzogen. Ich kannte ihn nicht.
Es war wie immer: angesichts eines Toten wurde ich ruhig; und wurde die Kotzgefühle nicht los.
"Himmel", sagte ich, "wozu denn das?"
"Non gridare", sagte Santini, der Vorarbeiter, hinter mir.
In der feuchten Dunkelheit hier drin hatte ich ihn noch gar nicht bemerkt.
Non gridare, dachte ich. Und ob, Santini. Ich hatte vor ein paar Tagen genug Geld an ihn verloren, um hier tagelang herumschreien zu dürfen.
"Non serve a niente", sagte Santini, "bringt nichts"
Dasselbe hatte er gesagt, als ich mir Geld leihen wollte, um weiterspielen zu können. Für einen Italiener kann Santini verdammt trocken sein.
Diesmal mußte ich ihm recht geben. Hier konnte wirklich nichts mehr helfen. Jedenfalls nicht im Augenblick.
Der Tote hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Nicht einmal mehr sterben schien man zu können ohne diese grausligen Dinger.

Die Arbeiter versuchten, mit Stangen die größeren Felsbrocken zu bewegen, um die Leiche frei zu bekommen. Wenn man dem Toten nicht alle Knochen brechen wollte, war das eine verdammt komplizierte Angelegenheit. Und aus irgendeinem Grund wollten sie ihn so unbeschädigt wie möglich da herauskriegen. Vielleicht war es einfach ihre Art von Mitleid.
Die Luft war feucht hier drin, und warm. Man schwitzte vom Nichtstun. Ich jedenfalls. Es war mir ein Rätsel. Was wir alle nicht verstanden: wie, verdammt, wie war der Tote in den Berg gekommen?
"Bestia. Quà qualcuno cerca di fotterci", sagte Santini, der Vorarbeiter.

Weiter draußen im Tunnel hatte es vor Monaten Schwierigkeiten gegeben, weil ihnen bei den Bohrarbeiten ein ganzer Bach entgegengekommen war. Dafür fehlte der Pflerer Sonnseiten dann plötzlich das Wasser. Was deswegen besonders schlimm war, weil man nun gezwungen war, Schattseitwasser zu trinken. Und das, da waren sich die Leute auf der Sonnseiten einig, schmeckte nach gar nichts.
Aber das hier war etwas anderes. An der Stelle, wo sie heute gesprengt hatten, war der Fels so massiv gewesen, wie man es sich als Tunnelbohrer nur wünschen konnte.
Es war eine etwas eigenartige Situation. Da standen an die fünfzehn Männer in einem halbfertigen Tunnel. Soweit im Berg drin, wie sie sich wie die Maulwürfe in den letzten Monaten hineingearbeitet hatten. Und ich, ein verhinderter Aushilfs-LKW-Fahrer, stand dabei. Vor uns der eben abgesprengte Steinhaufen. Und mittendrin eine Leiche.
Die Tunnelbauer hatten bei ihrer Arbeit schon Tote gesehen. Ich auch. Dieser hier fiel etwas aus der Reihe.

So Scheißunfälle wie der am 1. Mai, vor genau einer Woche, saßen ihnen allen noch lange in den Knochen. Es hatte einigen Ärger gegeben, damals. In den Wohnbaracken der Tunnelarbeiter war viel geredet worden, heftig und laut. Natürlich wollten sie sich ein Haus bauen mit dem Scheißgeld, das hier zu verdienen war. Aber ein Toter braucht kein Haus.
Und dann waren plötzlich alle aus ihren Löchern gekommen und über sie hergefallen, genau einen Tag lang: Polizei, Carabinieri, das Arbeitsinspektorat, die Gewerkschaft und ein Arbeiterpriester. Ein paar Stunden lang war die Gewerkschaft laut geworden und hatte eine blasse Schmalbrust geschickt, die in einem früheren Leben einmal einen zweifingerdicken Schrieb über Arbeitssicherheit verfaßt haben mußte. Ohne sich dabei auch nur den Zeigefinger zu verstauchen.
Die Firma hatte sich auf das Schicksal hinausgeredet, als ob es Teil des Arbeitsvertrages wäre. Und ansonsten nicht die geringste Schuld an sich entdecken können. Wie auch. Scheiß Schreibtischhocker. Mehr hatte man hier für die nicht übrig.
Die Arbeiter wußten, daß die Höhe ihres Gehaltes auch etwas damit zu tun hatte, daß das hier immer wieder zu einem Höllenjob werden konnte. Aber verheizen ließ man sich ungern. Und daß einer von ihnen ausgerechnet an einem 1. Mai jämmerlich von einem Felsbrocken erschlagen wurde, war ihnen doch zuviel. Außerdem hatte der Unfall einen unangenehmen Beigeschmack von Unausweichlichkeit gehabt. Etwas von einem Gottesurteil. Von einem Menschenopfer. Mitten in der Arbeit hatte sich von der Tunneldecke eine metergroße Felsplatte gelöst. Und war zentimetergenau auf den Arbeiter geknallt.
Man hatte den Zeitdruck ganz einfach auf sie abgewälzt. Und der hatte einen von ihnen unter sich begraben.

Jahrelang waren die Tunnelbauarbeiten wegen politischer Kungeleien verschleppt worden. Die Politiker hatten sich aufgeführt, als hätten sie es mit einem Jahrhundertwerk zu tun gehabt. Dabei ging es eigentlich nur darum, einen neuen Eisenbahntunnel zu bauen. Der alte war an die hundert Jahre alt. Die k. u. k.-Ingenieure hatten damals eine unterirdische Schleife durch das Pflerer Tal gezogen, um den hustenden Dampflokomotiven die Arbeit auf dem Anstieg zum Brenner zu erleichtern. Mit einer Steigung von 23 Promille, und Kurvenradien von bis zu 229 Metern.
Für das moderne Europa war das zuviel und zuwenig. Der neue Tunnel sollte einen größeren Radius bekommen, um höhere Geschwindigkeiten zu erlauben. So einfach war das. Eigentlich. Und unter normalen Umständen. Gekommen war es ganz anders.
Was Tunnels anbelangte, war man etwas heikel hier in der Gegend. Geplant war seit gut dreißig Jahren eigentlich einer, der tief untem im Berg den Brennerpaß unterlaufen sollte. Das Problem dabei war vor allem, daß der Brennerpaß zugleich auch Grenzübergang war. Und nicht nur irgendeiner. Sondern ein tirolischer, und ein italienischer, und wer weiß was noch. Und einen solchen Grenzübergang einfach so zu untertunneln, war anscheinend nicht möglich. Jahrelang hatten sie sich gerauft und hinten und vorn intrigiert. Und dafür und dagegen. Und dazwischen. Wenn es schon einmal gegen die Tunnel ging, dann lieber gleich gegen alle. Auch gegen den Pflerer. 1988 sollte er eigentlich schon fertiggestellt sein, und die Kleinigkeit von 90 Milliarden Lire gekostet haben. Jetzt schrieben wir das Jahr 1991, und wann der Tunnel fertig werden würde, stand in den Sternen. Im letzten Jahr hatten sie es dann plötzlich eilig gekriegt mit dem Tunnel. Höchstwahrscheinlich aus denselben Gründen, aus denen man vorher dagegen gewesen war.

Nach dem Unfall hatten ein paar von ihnen einen Streik versucht. Umsonst. Die Gewerkschaft war verschwunden. Und ich hatte bei der Firma "M-Bau" zwei Fuhren abgesagt. Daraufhin hatte mich "M-Bau"-Chefin einen sturen Hund genannt. Kann sein, daß sie recht hatte. Ich weiß es nicht.

Ich wußte auch jetzt nicht unbedingt, was ich tat. Es hatte mich niemand hierher geschickt. Ich hätte draußen an meinem LKW warten können. Bis sich die Aufregung gelegt hatte. Stattdessen stand ich in einem Tunnel, an dem die italienischen Staatseisenbahnen seit Jahren herumbauten. Und vor mir lag eine Leiche.
Vielleicht war mir die Fahrerei zu langweilig geworden. Vielleicht war mir in dieser Alpenrosengegend auch einfach zu wenig los. Oder zuviel. Und ich hatte die Kontrolle verloren, über mich. Aber wann hat man die schon.

Sie arbeiteten sich behutsam vor. Als ob der hier noch am Leben wäre. Während die Arbeiter wieder einen Felsbrocken zur Seite räumten, kam der Aktenkoffer langsam deutlicher zum Vorschein.
Wir hatten hier also nicht nur eine Leiche im schwarzen Anzug gefunden, die nicht älter als ein paar Tage sein konnte. Sondern in deren Hand auch noch einen Aktenkoffer. Aus Leder.
Hier, wo ringsherum bis vor kurzem noch massiver Fels gewesen war, und sonst nichts. Und über unseren Köpfen ein Berg, der auf gut 2000 Meter Höhe kam. Oben lag noch jede Menge Schnee. Schließlich hatten wir grad Anfang Mai.
Ich hatte das deutliche Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte. Ich wußte nur noch nicht, was.
Die Tunnelarbeiter hatten den Koffer bisher nicht gesehen, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, die Leiche frei zu räumen. Oder er interessierte sie einfach nicht. Vielleicht wußten sie auch nur zu genau, was sie taten.
Keiner sagte etwas, als ich der Leiche den Aktenkoffer aus der Hand nahm. Sie taten, als würden sie nichts sehen. Oder sie sahen wirklich nichts. Zwei Finger waren noch einigermaßen fest um den Handgriff geschlungen. Ich zog mit einem Ruck am Koffer; es ging.
Die Arbeiter machten sich daran, die Stelle gegen einen Einsturz abzusichern.
"Meglio che tu te ne vai", sagte Santini, der Vorarbeiter, zu mir.
Er war plötzlich wieder in meinem Rücken aufgetaucht. Und blendete mich jetzt mit seiner Stirnlampe. Nur gut, daß ich ihn vom Kartenspielen her genau kannte. Er war immer so. Kurz angebunden, manchmal undurchschaubar. Santini drehte die Lampe nach oben und sah mich an. Den staubigen Aktenkoffer in meiner Hand konnte er nicht übersehen haben.
"Non vorrei, che ti trovassero qua. Vai."
"Già", sagte ich. "Giusto quello che volevo fare. Bin schon weg."
Und ging. Dem Tunnelausgang zu.

Es mußte wirklich nicht sein, daß mich irgendeiner dieser Ordnungshüter hier antreffen würde. Ich hatte schon genug Ärger gehabt mit ihnen. In früheren Zeiten. Das sollte reichen. Und eigentlich wollte ich die nächsten Wochen und Monate so ruhig wie möglich verbringen. In meinem Alter war das auch zu verstehen. Gut achtunddreißig Jahre waren Grund genug, sich einen warmen Platz hinterm Ofen zu suchen. Nur hatte ich immer Pech dabei. Meistens saß da schon einer. Und tat unschuldig.



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Den døde i bjerget
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