Der Tote im Fels
Roman.
Haymon Verlag, 1993. Diogenes Taschenbuch, 1999
Kapitel I
Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er tot.
Als ich ihn zum zweiten Mal sah, war er immer noch tot. Und mir
ziemlich gefährlich geworden.
In
den Tagen dazwischen sollte ich, nicht ganz unfreiwillig und nicht eben
im Zustand völliger Unschuld, noch anderes zu sehen bekommen. Genug, um
weder die Toten noch die Lebenden zu beneiden.
Der hier war einfach tot. So weit vom Leben entfernt wie sonst nie.
Aber was konnte man von dem Mann auch anderes verlangen.
Sie hatten soeben fünf Kubikmeter bestes, massives Alpengestein
abgesprengt in diesem Tunnel. Dazu waren sie schließlich da.
Man
hatte sie ins Pflerschtal geschickt, um ein Loch durch den Berg zu
wühlen. Einen Tag nach dem anderen. Sie hatten den Berg mit kleinen
Nadelstichen angebohrt, Sprengstoff hineingestopft. Und die Löcher
scharfgemacht. Dann war der Tunnel geräumt worden. Die Druckwelle hatte
Staub die Röhre hinausgeblasen. Entwarnung. Sie waren wieder
eingerückt, um das Gestein abzubauen. Der Hund am Nachbarshof beruhigte
sich wieder. Bis zum nächsten Mal.
Ich hatte das schon oft genug miterlebt auf dieser Tunnelbaustelle.
Weil
ich mir hier schon oft genug die Füße platt getreten hatte. Bestellt,
und nichts zum Abholen da. Es ist immer dasselbe, langweilige Spiel.
Wenn die Fuhrunternehmer so einen wie mich überhaupt anheuern, dann
nur, weil sie mit ihren Terminen in ärgsten Schwierigkeiten sind. Dann
nehmen sie sogar so ungeliebte Idioten wie mich. Hauptsache, einer
schafft es auf die Zugmaschine. Wie, ist egal. Einen solchen Job
anzunehmen bedeutet: heute laden und vorgestern abliefern. Und dann
bringt irgendein Büromensch die Termine durcheinander. Und man steht
gratis stundenlang neben einem leeren LKW, und wartet darauf, daß sie
ihn endlich volladen.
An sowas gewöhnt man sich. An anderes nicht.
Diesmal gab es Geschrei. Und alles lief. Richtung Tunnel.
Es
ging mich zwar nichts an. Aber schließlich kannte ich einige der
italienischen Arbeiter hier ziemlich gut. Vom Kartenspielen her.
Ich
lief mit in die Tunnelröhre hinein. Gute fünf Minuten. Ein dunkles
Loch. Als wir endlich angekommen waren, lag, am Ende des Tunnels, unter
kniehohen Steintrümmern, ein Mann im schwarzen Anzug. Lag da, wo
eigentlich nur freigesprengter Felsen liegen sollte.
Viel war von dem Mann zuerst nicht zu sehen. Die Arbeiter räumten mit
bloßen Händen die kleineren Felsbrocken zur Seite.
Ich wollte mich nicht einmischen, hier waren sie zuständig. Zeit genug
für mich, um genauer hinzuschauen.
Das,
was man von dem Mann jetzt erkennen konnte, sah nach einem Abspüler mit
dazugehöriger fünfzehnjähriger Karriere in der transalpinen Hotelerie
aus. Hoffnungslos gezeichnet. Und so wie's aussah, trug er immer noch
seinen Erstkommunionsanzug. Seit zwanzig Jahren. Gestreift, und an den
Ärmeln um ein paar Zentimeter zu kurz. Das Gesicht war staubbedeckt.
Wie das einer reichlich alternden Dame von einer dicken Puderschicht
überzogen. Ich kannte ihn nicht.
Es war wie immer: angesichts eines Toten wurde ich ruhig; und wurde die
Kotzgefühle nicht los.
"Himmel", sagte ich, "wozu denn das?"
"Non gridare", sagte Santini, der Vorarbeiter, hinter mir.
In der feuchten Dunkelheit hier drin hatte ich ihn noch gar nicht
bemerkt.
Non
gridare, dachte ich. Und ob, Santini. Ich hatte vor ein paar Tagen
genug Geld an ihn verloren, um hier tagelang herumschreien zu dürfen.
"Non serve a niente", sagte Santini, "bringt nichts"
Dasselbe
hatte er gesagt, als ich mir Geld leihen wollte, um weiterspielen zu
können. Für einen Italiener kann Santini verdammt trocken sein.
Diesmal mußte ich ihm recht geben. Hier konnte wirklich nichts mehr
helfen. Jedenfalls nicht im Augenblick.
Der Tote hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Nicht einmal mehr sterben
schien man zu können ohne diese grausligen Dinger.
Die
Arbeiter versuchten, mit Stangen die größeren Felsbrocken zu bewegen,
um die Leiche frei zu bekommen. Wenn man dem Toten nicht alle Knochen
brechen wollte, war das eine verdammt komplizierte Angelegenheit. Und
aus irgendeinem Grund wollten sie ihn so unbeschädigt wie möglich da
herauskriegen. Vielleicht war es einfach ihre Art von Mitleid.
Die
Luft war feucht hier drin, und warm. Man schwitzte vom Nichtstun. Ich
jedenfalls. Es war mir ein Rätsel. Was wir alle nicht verstanden: wie,
verdammt, wie war der Tote in den Berg gekommen?
"Bestia. Quà qualcuno cerca di fotterci", sagte Santini, der
Vorarbeiter.
Weiter
draußen im Tunnel hatte es vor Monaten Schwierigkeiten gegeben, weil
ihnen bei den Bohrarbeiten ein ganzer Bach entgegengekommen war. Dafür
fehlte der Pflerer Sonnseiten dann plötzlich das Wasser. Was deswegen
besonders schlimm war, weil man nun gezwungen war, Schattseitwasser zu
trinken. Und das, da waren sich die Leute auf der Sonnseiten einig,
schmeckte nach gar nichts.
Aber das hier war etwas anderes. An der
Stelle, wo sie heute gesprengt hatten, war der Fels so massiv gewesen,
wie man es sich als Tunnelbohrer nur wünschen konnte.
Es war eine
etwas eigenartige Situation. Da standen an die fünfzehn Männer in einem
halbfertigen Tunnel. Soweit im Berg drin, wie sie sich wie die
Maulwürfe in den letzten Monaten hineingearbeitet hatten. Und ich, ein
verhinderter Aushilfs-LKW-Fahrer, stand dabei. Vor uns der eben
abgesprengte Steinhaufen. Und mittendrin eine Leiche.
Die Tunnelbauer hatten bei ihrer Arbeit schon Tote gesehen. Ich auch.
Dieser hier fiel etwas aus der Reihe.
So
Scheißunfälle wie der am 1. Mai, vor genau einer Woche, saßen ihnen
allen noch lange in den Knochen. Es hatte einigen Ärger gegeben,
damals. In den Wohnbaracken der Tunnelarbeiter war viel geredet worden,
heftig und laut. Natürlich wollten sie sich ein Haus bauen mit dem
Scheißgeld, das hier zu verdienen war. Aber ein Toter braucht kein Haus.
Und
dann waren plötzlich alle aus ihren Löchern gekommen und über sie
hergefallen, genau einen Tag lang: Polizei, Carabinieri, das
Arbeitsinspektorat, die Gewerkschaft und ein Arbeiterpriester. Ein paar
Stunden lang war die Gewerkschaft laut geworden und hatte eine blasse
Schmalbrust geschickt, die in einem früheren Leben einmal einen
zweifingerdicken Schrieb über Arbeitssicherheit verfaßt haben mußte.
Ohne sich dabei auch nur den Zeigefinger zu verstauchen.
Die Firma
hatte sich auf das Schicksal hinausgeredet, als ob es Teil des
Arbeitsvertrages wäre. Und ansonsten nicht die geringste Schuld an sich
entdecken können. Wie auch. Scheiß Schreibtischhocker. Mehr hatte man
hier für die nicht übrig.
Die Arbeiter wußten, daß die Höhe ihres
Gehaltes auch etwas damit zu tun hatte, daß das hier immer wieder zu
einem Höllenjob werden konnte. Aber verheizen ließ man sich ungern. Und
daß einer von ihnen ausgerechnet an einem 1. Mai jämmerlich von einem
Felsbrocken erschlagen wurde, war ihnen doch zuviel. Außerdem hatte der
Unfall einen unangenehmen Beigeschmack von Unausweichlichkeit gehabt.
Etwas von einem Gottesurteil. Von einem Menschenopfer. Mitten in der
Arbeit hatte sich von der Tunneldecke eine metergroße Felsplatte
gelöst. Und war zentimetergenau auf den Arbeiter geknallt.
Man hatte den Zeitdruck ganz einfach auf sie abgewälzt. Und der hatte
einen von ihnen unter sich begraben.
Jahrelang
waren die Tunnelbauarbeiten wegen politischer Kungeleien verschleppt
worden. Die Politiker hatten sich aufgeführt, als hätten sie es mit
einem Jahrhundertwerk zu tun gehabt. Dabei ging es eigentlich nur
darum, einen neuen Eisenbahntunnel zu bauen. Der alte war an die
hundert Jahre alt. Die k. u. k.-Ingenieure hatten damals eine
unterirdische Schleife durch das Pflerer Tal gezogen, um den hustenden
Dampflokomotiven die Arbeit auf dem Anstieg zum Brenner zu erleichtern.
Mit einer Steigung von 23 Promille, und Kurvenradien von bis zu 229
Metern.
Für das moderne Europa war das zuviel und zuwenig. Der neue
Tunnel sollte einen größeren Radius bekommen, um höhere
Geschwindigkeiten zu erlauben. So einfach war das. Eigentlich. Und
unter normalen Umständen. Gekommen war es ganz anders.
Was Tunnels
anbelangte, war man etwas heikel hier in der Gegend. Geplant war seit
gut dreißig Jahren eigentlich einer, der tief untem im Berg den
Brennerpaß unterlaufen sollte. Das Problem dabei war vor allem, daß der
Brennerpaß zugleich auch Grenzübergang war. Und nicht nur irgendeiner.
Sondern ein tirolischer, und ein italienischer, und wer weiß was noch.
Und einen solchen Grenzübergang einfach so zu untertunneln, war
anscheinend nicht möglich. Jahrelang hatten sie sich gerauft und hinten
und vorn intrigiert. Und dafür und dagegen. Und dazwischen. Wenn es
schon einmal gegen die Tunnel ging, dann lieber gleich gegen alle. Auch
gegen den Pflerer. 1988 sollte er eigentlich schon fertiggestellt sein,
und die Kleinigkeit von 90 Milliarden Lire gekostet haben. Jetzt
schrieben wir das Jahr 1991, und wann der Tunnel fertig werden würde,
stand in den Sternen. Im letzten Jahr hatten sie es dann plötzlich
eilig gekriegt mit dem Tunnel. Höchstwahrscheinlich aus denselben
Gründen, aus denen man vorher dagegen gewesen war.
Nach dem
Unfall hatten ein paar von ihnen einen Streik versucht. Umsonst. Die
Gewerkschaft war verschwunden. Und ich hatte bei der Firma "M-Bau" zwei
Fuhren abgesagt. Daraufhin hatte mich "M-Bau"-Chefin einen sturen Hund
genannt. Kann sein, daß sie recht hatte. Ich weiß es nicht.
Ich
wußte auch jetzt nicht unbedingt, was ich tat. Es hatte mich niemand
hierher geschickt. Ich hätte draußen an meinem LKW warten können. Bis
sich die Aufregung gelegt hatte. Stattdessen stand ich in einem Tunnel,
an dem die italienischen Staatseisenbahnen seit Jahren herumbauten. Und
vor mir lag eine Leiche.
Vielleicht war mir die Fahrerei zu
langweilig geworden. Vielleicht war mir in dieser Alpenrosengegend auch
einfach zu wenig los. Oder zuviel. Und ich hatte die Kontrolle
verloren, über mich. Aber wann hat man die schon.
Sie arbeiteten
sich behutsam vor. Als ob der hier noch am Leben wäre. Während die
Arbeiter wieder einen Felsbrocken zur Seite räumten, kam der
Aktenkoffer langsam deutlicher zum Vorschein.
Wir hatten hier also
nicht nur eine Leiche im schwarzen Anzug gefunden, die nicht älter als
ein paar Tage sein konnte. Sondern in deren Hand auch noch einen
Aktenkoffer. Aus Leder.
Hier, wo ringsherum bis vor kurzem noch
massiver Fels gewesen war, und sonst nichts. Und über unseren Köpfen
ein Berg, der auf gut 2000 Meter Höhe kam. Oben lag noch jede Menge
Schnee. Schließlich hatten wir grad Anfang Mai.
Ich hatte das deutliche Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte. Ich wußte
nur noch nicht, was.
Die
Tunnelarbeiter hatten den Koffer bisher nicht gesehen, weil sie zu sehr
damit beschäftigt waren, die Leiche frei zu räumen. Oder er
interessierte sie einfach nicht. Vielleicht wußten sie auch nur zu
genau, was sie taten.
Keiner sagte etwas, als ich der Leiche den
Aktenkoffer aus der Hand nahm. Sie taten, als würden sie nichts sehen.
Oder sie sahen wirklich nichts. Zwei Finger waren noch einigermaßen
fest um den Handgriff geschlungen. Ich zog mit einem Ruck am Koffer; es
ging.
Die Arbeiter machten sich daran, die Stelle gegen einen Einsturz
abzusichern.
"Meglio che tu te ne vai", sagte Santini, der Vorarbeiter, zu mir.
Er
war plötzlich wieder in meinem Rücken aufgetaucht. Und blendete mich
jetzt mit seiner Stirnlampe. Nur gut, daß ich ihn vom Kartenspielen her
genau kannte. Er war immer so. Kurz angebunden, manchmal
undurchschaubar. Santini drehte die Lampe nach oben und sah mich an.
Den staubigen Aktenkoffer in meiner Hand konnte er nicht übersehen
haben.
"Non vorrei, che ti trovassero qua. Vai."
"Già", sagte ich. "Giusto quello che volevo fare. Bin schon weg."
Und ging. Dem Tunnelausgang zu.
Es
mußte wirklich nicht sein, daß mich irgendeiner dieser Ordnungshüter
hier antreffen würde. Ich hatte schon genug Ärger gehabt mit ihnen. In
früheren Zeiten. Das sollte reichen. Und eigentlich wollte ich die
nächsten Wochen und Monate so ruhig wie möglich verbringen. In meinem
Alter war das auch zu verstehen. Gut achtunddreißig Jahre waren Grund
genug, sich einen warmen Platz hinterm Ofen zu suchen. Nur hatte ich
immer Pech dabei. Meistens saß da schon einer. Und tat unschuldig.
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