Grobes Foul
Roman. Haymon Verlag,
1993. Diogenes Tb, 2000. Haymon Tb, 2010.
Kapitel VII
Waldfrieden.
Da war dem unbekannten Dichter die Phantasie gewaltig durchgegangen.
Denn von Wald war rund um das Haus Waldfrieden ebenso wenig zu sehen
wie von Frieden. Es war nichts anderes als ein dreistöckiger Bau aus
den späten fünfziger Jahren, quadratisch, praktisch, gut. In die grob
verputzten Mauern hatten sie in regelmäßigen Abständen kleine Fenster
eingelassen, der erste Stock hatte sogar einen Balkon spendiert
bekommen. Dach und Fassade hätten seit Jahren schon eine kleine
Generalüberholung notwendig gehabt. Aber dazu konnte sich das
Verteidigungsministerium anscheinend nicht aufraffen.
Das
römische Ministerium war, wenn die Gasthausgeschichten stimmten,
irgendwann in den sechziger Jahren in den Besitz des Hauses gekommen.
Sozusagen als Wiedergutmachung für den Schaden, den ein oder mehrere
unbekannt gebliebene Attentäter einem aufgelassenen Wachhäuschen
irgendwo oben am Berg zugefügt hatten.
Eines Nachts war es in
die Luft geflogen. Besonders schad drum sei es nicht gewesen, hatte man
im Gasthaus erzählt, "die Baracke hat schon jahrelang leergestanden,
durchs Dach hat´s durchgeregnet, recht lang hätt´s nicht mehr gedauert,
und dann wär sie von selbst eingefallen". Aber, und das war der
springende Punkt, um das langsam, aber sicher verfallende Wachhäuschen
hatte das Militär einen Zaun gezogen und Schilder angebracht:
Attenzione! Zona militare. Achtung! Militärzone. Und deswegen hatte es,
als die unbekannten Attentäter dem Lauf der Zeit mit ein paar Kilo
Tritol zuvorgekommen waren, einen riesen Aufstand gegeben,
kompanienweise waren die Gebirgsjäger angerückt und hatten die ganze
Gegend belagert. Schließlich hatte man es mit einem Anschlag auf die
Integrität des italienischen Staates und seine Einrichtungen zu tun.
Gleichzeitig hielten sich hartnäckig Gerüchte, die Baracke sei von den
Freiheitskämpfern als Zwischenlager für den aus dem Vaterland
Österreich über die Jöcher eingeschmuggelten Sprengstoff
zweckentfremdet worden. Und unglücklicherweise sei das Ganze dann ganz
einfach und aus purem Zufall in die Luft geflogen. So gesehen wäre der
Schaden für die Freiheitskämpfer größer als für den italienischen Staat
gewesen. Ein anderes Gerücht wollte wissen, man habe an der ziemlich
versteckt oben am Berg gelegenen Baracke nur einen neuen Sprengstoff
erproben wollen. Bevor es ernst wurde. Wie auch immer: die italienische
Staatsmacht war ziemlich beleidigt gewesen. Und hatte sich schadlos
gehalten. Der Besitzer des Haus Waldfrieden war in Verdacht geraten, an
der Sache beteiligt gewesen zu sein. Und deswegen hatte sie ihn ein
paar Monate lang in Haft genommen, den Waldfrieden beschlagnahmt und
nach und nach mit Carabinieri und Finanzern belegt.
Seither wohnten
in Maria Trens, dem gottvergessenen kleinen Dorf und Wallfahrtsort am
Talrand, ein paar treue Staatsdiener mit ihren glücklichen Familien.
Und
ich. Mir war immer noch nicht klar, wie ich zu der fragwürdigen Ehre
gekommen war, in dieser staatstragenden Umgebung zu einer Wohnung
gekommen zu sein. In ihren Dossiers, die sie über alles und jeden
anlegen, konnte nichts Allzugutes über mich stehen. Und man hatte mich
schon einmal wegen Spionageverdachtes aus Italien abgeschoben. Als ob
so eine verunglückte Figur wie ich irgend jemandem gefährlich werden
könnte. Trotzdem. Und dann schienen sie es sich plötzlich anders
überlegt zu haben. Wieso auch immer. Man hatte mir diese
Junggesellenwohnung unterm Dach des Haus Waldfrieden zugeschoben. In
meiner Verzweiflung und nachdem ich monatelang vergebens nach
irgendeiner bezahlbaren Absteige gesucht hatte, war ich eingezogen.
Inzwischen
hatte ich es längst schon bereut. Es war nicht zum Aushalten. Es gibt
nichts Schlimmeres, als bei der Rückkehr von einer langen Nacht im
Treppenhaus vor deiner Wohnungstür auf einen ausgewachsenen,
unrasierten Carabiniere in rosa Hausschuhen zu treffen. Mir passierte
es mit entnervender Regelmäßigkeit.
Der einzige Ort, an dem ich
mich vor der Staatsmacht einigermaßen in Sicherheit fühlen konnte, war
der Holzschuppen, der an die Rückseite des Haus Waldfrieden gelehnt vor
sich hinmoderte. Hierher traute sich sonst keiner. Die Holerstauden
wucherten, seit der Besitzer gewechselt hatte, in aller Ruhe in den
Himmel, die Brennesseln gingen einem bis zur Hüfte. Aber sobald man
sich durchgekämpft hatte, tat sich ein kleines, ruhiges Plätzchen auf,
an dem man seine Ruhe vor der Welt hatte.
"Hier", sagte ich und tat einen Schnaufer. "Das ist er."
"Was?" sagte das kleine Ding.
"Der Ort, an dem einem die Welt den Buckel hinunter rutschen kann."
Sie sah mich ziemlich skeptisch an. Und setzte sich dann neben mich.
"Das kann sie mir überall."
"Aber hier geht es leichter", sagte ich.
"Da bin ich aber gespannt."
Die Kleine lachte.
"Vorsicht beim Hinsetzen", sagte ich. "Daß du mir die Hesemandln nicht
verschüttest."
"Die was?"
"Hesemandln. Ameisenlöwen."
"Ich seh keine Löwen. Gehört hab ich auch noch keine."
"Weil
sie still sind. Sehen kann man sie auch nicht. Die verstecken sich. Und
warten auf die Ameisen. Und wenn sie sie haben, beißen sie sich fest
und saugen sie aus."
"Grausam."
"Nicht mehr als alle anderen auch. Aber ziemlich schlau. Schau her ..."
Ich zeigte ihr einen der kleinen Trichter. Er war ein paar Zentimeter
breit. Und genau so tief.
"Sie
graben sich so ein Loch. Dann wird der Trichter gebaut. Aus ganz feinem
Sand. Unten, am Ende, sitzt der Ameisenlöwe. Einen Zentimeter groß. Und
mit Sand bedeckt. Da sitzt er und wartet. Und dann ..."
Ich sah mich um.
"Was suchst du?"
Die Kleine begann, sich für meine Hesemandln zu interessieren.
"Eine Ameise. Ich brauch eine Ameise. Vielleicht sind sie ja schon
wach."
Endlich hatte ich eine gefunden.
"Die nimmt man, und schiebt sie zum Trichter. Wenn sie gar nicht will,
mußt sie halt bei den Beinen nehmen. Und jetzt schau zu."
Die
Ameise war, kaum hatte sie sich über den Trichterrand vorgewagt,
abgerutscht. Und jetzt kämpfte sie um ihr Leben. Aber in den Sandwänden
des Trichters fand sie keinen Halt. So sehr sie sich auch abstrampelte.
Es dauerte. Sie rutschte immer tiefer ab.
"Weiß sie, daß da unten ein Hesemandl wartet?"
Der Kleinen schien die Ameise leid zu tun.
"Ich weiß es nicht", sagte ich. "Aber am Ende macht das keinen
Unterschied."
Und
dem Ende war die Ameise jetzt schon ziemlich nahe. Ganz unten im
Trichter bewegte sich der Sand, für den Bruchteil einer Sekunde war das
Hesemandl zu sehen, wie es sich mit seinen Beißzangen in den Hinterleib
der Ameise verkrallte. Dann versanken beide im Sand. Es waren nur mehr
der Kopf der Ameise und ihre Vorderbeine zu sehen. Und ihr Zappeln.
"Und jetzt?"
Die Kleine sah gebannt zu.
"Jetzt
spritzt das Hesemandl Gift und einen Verdauungssaft in die Ameise.
Durch einen kleinen Kanal in den Beißzangen. Und durch einen anderen
Kanal in den Zangen saugt es dann die Ameise leer. Bis nichts mehr
übrig bleibt. Die leere Ameisenhülle scheißt es dann über den
Trichterrand hinaus."
"Machst du das öfter?"
"Was?"
"Die Ameisen in den Trichter schicken."
"Ja."
"Wieso?"
"Weiß nicht."
"Wieso?"
"Schicksal spielen, vielleicht."
"Dauert das noch lange?" sagte die Kleine und zeigte auf die zappelnde
Ameise.
"Ja. Meistens."
"Ich schau mir das nicht mehr länger an." Die Kleine stand auf. "Das
ist ja brutal."
"Das ist Sterben immer."
Die Kleine zuckte mit den Schultern.
"Ich hab zu kalt."
"Dagegen kann man etwas tun", sagte ich.
(...)
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