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Stand 17.01.2010



Napule

Roman. Haymon Verlag, 2002. Diogenes Taschenbuch, 2005



Bedienungsanleitung:
Es gilt alles nichts.
Also gilt das geschriebene Wort.

Mit einem Glossar
(Es herrscht Vielstimmigkeit in Napule
- dem Napoli der Napoletaner -;
und diese Stimmen brauchen Raum)




1
Partono ’e bastimente
pe’ terre assaje luntane

Die Weltmeere sind der Hefaistos längst zu weit geworden. Also zieht sie östlich der Säulen des Herkules ihre immergleichen, ventilaufreibenden Runden, ein dürres Schnittmuster wie zufällig zwischen heruntergekommenen Häfen gezogener Linien, ein Hin und Her, ein Auf und Ab, Sfaks, Bari, Saida, Patras, Haifa, Smirne, Beirut, Cagliari, Vassiliko, Trieste, Ajaccio, Saloniki, Istambul, Binghazi, Igoumenitsa, Ancona, Ismir, Dubrovnik, Tarabulus, Famagusta, Rijeka, Mersin, Napoli, ein Hafen folgt dem anderen und auf die Dauer werden sie sich immer gleicher, nichts als ein chaotisches Gewirr von Zollpapieren, Sprachen, Kränen, Liegezeiten, undurchschaubaren Hafenmeistern und unberechenbaren Habtachtstehern, ein Laden und Löschen, Verbringen und Verschieben von immer neuen Gütern, Schrott und Schredder, Kartoffeln, Kabelrollen, Käsekanister, Lederimitate, Luftmatratzen, Leichtlauffelgen, Mandarinen, Menschen, Maschinen, und wer vom Weizen eine Tonne zuviel und vom Zucker eine Tonne zuwenig hat, ruft nach der Hefaistos und sie folgt seinem Ruf, auf ihren verschlungenen Wegen, irgendwann, und wo Reis fehlt und Rosen welken, stehen die Händler am Hafen und halten Ausschau nach ihr, irgendwo liegt das Geschäft schon im Fax und der Gewinn auf der Hand, jetzt muß noch die Ware zum Käufer und Wasser untern Kiel, man spricht mit den Händen auf diesem Frachter, kaum einer kann mehr als zwei Worte des anderen, das eine für das Vorn, das andere für das Hinten, fürs Alltägliche reicht es, so kann man sich freundlich beschimpfen und in die Verwünschungen treiben, die dann wie Gummibälle noch übers Deck springen, von hier nach dort, selten, daß ihre Richtung voraussehbar ist, vorhersagbar schon gar nicht, und so treibt das Fluchen durchs Schiff wie die Hefaistos durchs Mittelmeer und was wie ziellos und verworren aussieht, folgt einem feingesponnenem Plan, der weitab an Land geschrieben wird, täglich neu; und ein stiller Ruf erreicht die Hefaistos und sie macht kehrt.




2

Für gewöhnlich garantiert ein Seesack die wenigen Dinge, die ein vernünftiger Mensch zum Leben braucht: eine Handvoll Sicherheit, zwei Paar trockene Socken, ein kleines Zuhause und so viel Glück, daß von Unglück nicht mehr zu sprechen ist. Für gewöhnlich war Verlaß auf meinen Seesack. Also schulterte ich ihn, hob kurz die rechte Schulter, damit er sich an meinen Rücken legen konnte, nickte dem Ägypter zu, zog die Jacke vor der Brust zusammen und ging von Bord.

Sirenen, Autos, Bremsen, Türen, Geschrei. Und ich liege bäuchlings am Boden, mein Seesack halb auf, halb neben mir, ein oder zwei Schuhe im Kreuz, Schnee im Mund.
Denn es schneit in Napoli.
Dünne, leise Flocken. Sie wirbeln im ablandigen Wind auf und ab, ein Spiel wie ein anderes, und trotzdem denke ich: fehl am Platz. So wie du selbst.
Ich spucke kurz, versuche, zu Atem zu kommen und zu begreifen.
Vor mir, in dem schmalen Streifen zwischen dem dünnen, weißen Flaum auf dem Asphalt und dem blauen Autoblech mit den roten Buchstaben ARABI, laufen Stiefel und Turnschuhe, nach dem achten Paar habe ich aufgehört, sie zu zählen, und als ich meinen Kopf kurz nach oben drehe, sehe ich die Maschinenpistolen und die schwarzen Kapuzen.
Dann drückt ein Stiefel meinen Kopf wieder in den Schnee.
“Ist gut”, sage ich, “ ... schon verstanden.”

(...)

Ich hatte mich auf die Reise nach Napoli gemacht, weil es an der Zeit gewesen war. Weil ich diesen Frachter gefunden hatte. Weil ich es einem alten Freund versprochen hatte. Weil ich es eines Tages doch leid geworden war, aus dem Fenster meiner kleinen Wohnung auf einen verschneiten Hafen zu blicken.
Also hatte ich, als mich der Chef des Kafenions am Hafenrand ans Telefon gerufen hatte, Kieselstein ans Fenster, wie immer gleich der erste Wurf ein Treffer, „éh, Tséne, komm runter, éla káto!“, nicht lange nachgedacht.
“Dann sehen wir uns. Freut mich.”
Und herumgefragt. “Wann geht ein Schiff nach Napoli?”
„Es wird eines gehen. Es wird.“
Ich hatte mich hingesetzt und einen Kaffee bestellt.
Und war drei Tage später an den Ägypter geraten, der mit seinem Frachter erst Pireas, dann Napoli anlaufen sollte. Und weil Jorgos, der Wirt des Kafenions Majestic, mit dem Ägypter befreundet war und mich nun auch schon gute vier Jahre lang als Nachbar hatte, waren wir uns schnell handelseins geworden.
“Kein Problem. Sei einfach morgen um sechs Uhr da. Wir trinken noch unseren Metrio, und dann geht's los.”
Ich hatte am selben Nachmittag noch meinen Seesack gepackt.

Als wir in Saloniki ausliefen, schneite es noch immer. Über Athina lag ein dunkelgrauer Schneesturm, in der Meerenge von Messina brodelte es. Dieser Januar des Jahres 2002 meinte es gar nicht gut mit dem Mittelmeer. Trotzdem hatte ich die Reise für eine vernünftige Idee gehalten.

Inzwischen bin ich drauf und dran, mir das wieder anders zu überlegen. Die Arme sind mir längst taub geworden und liegen wie Fesseln am Rumpf, immer noch marschieren Stiefel an mir vorbei aufs Schiff, dann drei Hunde. Der letzte, eine schwarzgraue Mischung mit ansehnlichen Riesenschnauzer-Anteilen, hält kurz an, schaut neugierig in meine Richtung, kommt langsam näher, schnüffelt an meinem Gesicht.
Ich schließe die Augen und warte. Liege starr. Als ich endlich wieder alleine bin, bis auf dem Fuß in meinem Rücken, ein kurzer Pfiff hatte mich erlöst, hole ich so tief Luft, wie es mein längst schon flachgedrückter Brustkorb eben erlaubt und versuche, laut zu werden.
“Ma porca miseria.”
Jetzt soll man sein eigenes Unglück nicht auch noch verfluchen, zuviel hängt an ihm, wenn nicht gar unser ganzes Leben, und ein Unglück kommt selten allein, und also schreit mich jemand aus dem Nichts an.
„Tschenett!“
Das, denke ich, kann jetzt eigentlich nicht sein. Wer kennt mich schon. Und hier schon gar.
„Fatelo alzare. È un mio confidente.“
Nein, denke ich, und schüttle stumm den Kopf, so gut das in meiner Lage eben geht, das nicht. So nicht, mein Freund. Von dir lasse ich mich nicht einen Polizeispitzel nennen. Von dir nicht.

(...)




4
Nun è ca dico: ’O mare fa paura
Ma dico: ’O mare sta facenno ’o mare

Hier schlägt das Meer den Tuffstein und die Zeit tot. Hier ist immer gestern und hier ist immer morgen. Und irgendwo in den Kellergewölben dieser Festung, irgendwo in den Verließen dieses Schlosses liegt ein goldenes Ei verborgen. Und hinter jeder Ecke ein Skelett, unter jedem Türbogen ein Knochen, auf jeder Stufe ein Schädel. Es sind viele gestorben, alle sind sie gestorben auf der Suche nach dem goldenen Ei, verlassen, verdorben, gestorben. Davon ahnt ihr, wenn ihr in euren Sonntagsschuhen durch das Schloß geht, davon ahnt ihr, wenn ihr mit eurer Verlobten an der Brüstung steht und auf die Brandung seht, davon ahnt ihr, wenn ihr an seinem Fuße sitzt, davon ahnt ihr, wenn ihr von seinen Zinnen blickt, davon ahnt ihr nichts. Dieses Schloß ist so weit weg von euch wie ihr ihm nahe kommt. Dieses Schloß steht gar nicht hier, dieses Meer schlägt gar nicht hier, dieses Schloß liegt in einem verwunschenen Land, das ihr nicht kennt, dieses Schloß liegt in einem Paradies, das ihr euch nicht wünscht, dieses Schloß gibt es nicht und dieses Schloß war immer schon da. Und ich bin nur ein armer, alter Mann, ich bin nur einer, der das Leben längst hinter sich hat, mehr als das Leben sogar, den Tod habe ich auch schon hinter mir und Liebe und Leiden und Leidenschaft, vor mir liegt nur noch dieses Schloß und der Tuff und das Meer. Ich kann jeden eurer Schritte hören, ich kann jedes eurer Worte hören, ich kann jeden eurer Blicke hören, ihr schreit bei Tag und ihr schreit bei Nacht, ihr schreit, wenn ihr lacht und ihr schreit, wenn ihr singt, ihr schreit, wenn ihr weint und ihr schreit, wenn ihr euch küßt. Ihr habt Angst vor diesem Schloß und ihr habt Angst vor diesen Steinen und ihr habt Angst vor diesem Meer. Ich bin der Wächter des Castel dell'Ovo.





5

„Woher kennst du diesen Ciro?“
„Alte Geschichte“, sagt Totò. „War unser jüngster Lehrer an der Polizeischule, runde Dreißig, damals. Wir nannten ihn ’o prufessore. Er tauchte irgendwann einmal auf, als Aushilfskraft für einen jahrelang krankgeschriebenen ispettore, der an den carciofi in seinem Garten offensichtlich mehr Freude hatte als an uns. Wir standen im Klassenzimmer stramm, die Tür ging auf, herein kam dieser eigenartige Napoletaner, und vorbei war's mit der Ruhe. Ab da standen nur mehr die Idioten stramm.“
„Angenehmer Mensch. Unaufgeregt.“
„Und guter Esser. Ihr werdet euch verstehen.“

Als ob es nie geschneit hätte. Die Sonne scheint auf den Golfo di Napoli, liegt an den Hängen, der Asphalt staubt längst schon wieder. Wenn da nicht der Vesuvio wäre und seine Schneehaube, die bis zu den ersten Dörfern reicht, die längst Stadt sind, weiße Zungen, die ins Land lecken, wenn draußen überm Meer nicht die Wolken dunkel hingen wie eine Mauer: nie würde ich glauben, noch vor ein paar Stunden naß gelegen zu haben. Als ob die Welt eine andere wäre.

„Und sonst, Totò?“
„Ordinaria amministrazione. Alles wie gehabt.“
„Und das heißt?“
„Ich habe den Job am Brenner längst satt, weiß lang schon nicht mehr, wieso ich Polizist geworden bin.Und ich warte nur auf die Gelegenheit zur Kündigung.“
„Gelegenheit? Seit wie vielen Jahren jetzt? Das meinst du nicht ernst.“
„Anlaß. Anstoß. Irgendwas. Wenn ich freilich wüßte, was danach kommt, hätten wir's schon hinter uns. Ich kann mich nicht so wie du in irgendeinem Hafen verstecken.“
Irgendwo in unserem Rücken rumort beschwörerisch eine Stimme. Ich drehe mich um: ein alter Mann, der in die Luft redet.
„Totò, du hast eine fundamentale Charakterschwäche. Du hältst das Nichtstun nicht aus.“
„Schlecht. Zu lange im Norden gelebt.“
„Man kann es wieder lernen.“
„Vielleicht, wenn man ins dritte Alter gekommen ist, so wie du.“
„Wegen der acht Jahre ...“
„Trotzdem, Tschenett. Du verkriechst dich irgendwohin, läßt nichts von dir hören und sehen, bis auf die eine oder andere Postkarte. Und keiner weiß, womit du lebst, und wovon.“
„Ich habe nichts zu tun und damit genug zu tun.“

Wir sitzen auf einer Mauer, hinter uns das Castel dell'Ovo, vor uns der Golfo di Napoli, lassen jugendlich die Füße baumeln und schauen aufs Meer, als ob da sonst nichts wäre. Der alte Mann ist murmelnd hinter einer Mauer verschwunden.

„Und wenn ich wieder ein paar Drachmen brauche, tue ich das, was ich sonst auch tue: wandere zwischen den Sprachen, und also übersetze ich manchmal in den Händeln, die sich am Hafen ergeben, als italiano vom Dienst, und so ganz klar ist mir noch immer nicht geworden, was eigentlich von mir dabei erwartet wird, dieses zwischen den Worten Vermitteln oder das zwischen den Menschen, das man uns anscheinend eher zutraut als anderen. (Ob das nicht falsch ist, frage ich mich, ein Großirrtum, der sich aus dem Blick auf Bellaitalia speist?) Oder ich stehe an der Pfanne in einer kleinen Ouzerie. Nachdem ich jahrelang da gegessen habe, klaglos, mehr noch: manchmal laut begeistert, traut man mir die kleineren Gerichte durchaus zu, und so kann der Koch zur Bouzouki greifen und die Gäste verhungern trotzdem nicht. Es ergibt sich also, wie von alleine. Ein machbares Leben.“

Es hat sich eine Wolke verfangen am Vesuvio, der Wind zerrt an ihr und zieht sie lang zur Fahne. Kleiner Betrug: noch raucht der Berg nicht wieder.

„Du erinnerst dich an den alten Mann von Brindisi? Der mit den vielen Namen? Krassimir, Bashkim, Khaled, Jorgos, Cosmo, Demetrio, Agesilao, Francis, Michail Petrowitsch, Nilo. Wir haben nie erfahren, wie er wirklich heißt, ich kenne bis heute seinen richtigen Namen nicht. Weiß nicht genau, wovon und wofür er lebte. Ich weiß nicht einmal genau, ob er überhaupt noch lebt, in seinem Hotelzimmer am Hafen von Brindisi. Aber ich weiß, daß ich immer noch in seiner kleinen Wohnung in Saloniki sitze, unterm Dach, direkt am Hafen, zwei Handvoll Quadratmeter und ein stupender Blick, Beobachterhorst zwischen Tauben und Katzen wie zwischen Himmel und Erde, und bei Gott, keine dieser fetten Katzen des Nordens, nicht diese runden, häßlichen Biester, sondern räudig raubtierhaft schmale Kletterwesen, die in ihrer eigenen Stadt zu leben scheinen.“
„Napoli ist voll von solchen Katzen.“
„Deswegen bin ich hier, Totò.“
„Danke, Tschenett. Schönes Kompliment.“

„Da kommt Ciro.“
Und hat es eilig. Rudert etwas mit den Armen an seinem Körper entlang, als ob er gegen Wind ankämpfte, wo keiner ist; den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt kommt er auf uns zu, kein Wort, kein Zeichen, während wir beide ihn auf seinem Weg am Wasser entlang beobachten.
„Es gibt Ärger“, sagt Totò. „Ich erinnere mich an einen Tag, an dem Ciro mit genau diesem Gang in die Klasse kam. Er war etwas schmaler, damals, aber die Haltung war dieselbe. Es war der Tag des Massakers von Piazza Fontana, der Tag, an dem eine Bombe in der Banca Nazionale dell'Agricoltura sechzehn Menschen zerfetzte, an die achtzig verletzte. Polizeioffiziell sollten es die Anarchisten gewesen sein. Ciro stellte sich vor uns hin, holte einmal tief Luft, und sagte dann, still, fast unhörbar: 'Ich sage euch: Es waren die Faschisten. Und wir decken sie.' Dann setzte er sich und sprach, ohne Punkt und Komma und Unterlagen, eine Stunde lang von Observierungstechniken. Trockener, unspektakulärer Stoff, der einem für die Zukunft nichts Gutes verhieß, nichts außer Müdigkeit, Langeweile, geschwollene Füße und frostrote Ohren. Ganz anders, als wir das aus Filmen kannten. Aber Piazza Fontana war da und Piazza Fontana blieb da.“
„Da war doch was, vor ein paar Monaten ...“
„Ja. Ein Schwurgerichtshof hat, endlich, dreißig Jahre später, beschlossen, daß es doch die Faschisten waren. Und daß sie all die Jahre lang von unseren Polizeien, den diversen immer wieder neu gesäuberten Geheimdiensten und den Freunden aus Übersee gedeckt worden sind. Wer ihnen zu nahe kam, wurde in die andere Richtung gejagt. Falsche Fährten, verschwundene Beweisstücke, unversehens Verstorbene.“
„Und Ciro?“
„Wenn du mich fragst, ist das der Tag gewesen, an dem sein Polizistenherz einen Sprung bekommen hat. Und in den letzten dreißig Jahren ist genug passiert, um die Kluft zwischen ihm und seiner Polizei noch weiter zu vergrößern. Piazza Fontana ist seine offene Wunde. Aber er spricht selten darüber. Und hat längst schon arthritische Knie.“

„Ciao, Ciro. Was gibt's Neues?“
„Addò vaje truove guaje.“
Wohin du auch kommst: nichts als Ärger. Ciro scheint randvoll zu sein mit diesen napoletanischen Sprichwörtern. Mindestens eines für jede Lebenslage. Und die jetzige scheint ihm nicht besonders zu behagen.
Er steht vor uns, gräbt in den Tiefen seiner Hosentaschen und sieht aufs Meer hinaus, als gäbe es da für ihn etwas zu sehen, wo für unsereinen nur stilles Wasser ist, beschaulicher Wellengang, im besten Falle der Gedanke ans Verreisen. (Und für Altmatrosen wie unsereinen die schaudernde Erinnerung an das eisige Nordmeer; das ist lange her und weit weg, in diesem Augenblick. Dazu wärmt zu sehr die Wintersonne.)
„Addò vaje truove guaje.“
Er wiederholt es, leise, beinahe singend.
Totò wird nervös, was sich bei ihm, wie vor zehn Jahren schon, dadurch äußert, daß er mit offenem Mund nach einem ersten Wort sucht.
„Ist ...“
Ciro schüttelt sofort den Kopf.
Totò sieht mich an, ich sehe ihn an und wir denken: was ist? Bleiben stumm und starren jetzt auch aufs Meer. Aber da ist nichts. Nichts, was uns auf den Sprung helfen würde.
Also warten wir.
Und dann nimmt Ciro die Hände aus den Hosen, spitzt an der zu Boden gehaltenen Rechten Zeigefinger und Kleinfinger (Mittel-, Ringfinger und Daumen in der Handinnenfläche aufeinandergekreuzt) und stößt mit diesen Hörnern einmal stechend zu, fa le corna, das Uraltzaubermittel, um Bösen Blick, jettatura, Unglück und Mißgeschick von sich zu wenden; dreht sich, Ciro, halb erleichtert schon, und lehnt dann neben uns an der Mauer. Zupft sich am Ohrläppchen und beginnt zu reden. Vor sich hin.
„Ich bin in mein Büro, du kennst es“, sagt er. „Hatte da kurz was zu tun. Nichts Besonderes.“
Ohrläppchen.
„M’ hanno messo ’o gallo.“
Ohrläppchen.
Sie haben ihm einen Hahn ins Büro gelegt. Geköpft.
„Er war beinahe noch warm. So, wie es da aussieht, haben sie ihn lebendig mitgebracht.“
Langsam ahne ich, was Ciro da draußen im Golf sieht.
„Wer war's?“ sagt Totò.
Ciro hebt nur kurz die Schultern. Zupft, außer am Ohrläppchen, jetzt auch an seiner Nasenspitze. Als säße ihm immer noch jemand auf.
„Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden müssen. Und schnell.“
„Und du erzählst, du bist an keinem Fall dran ...“
„Bin ich auch nicht, Totò. Eigentlich nicht. Aber wer weiß. In dieser Stadt hat man immer mit irgendwas zu tun. Ob man will oder nicht. Es ist, wie durch unterirdische Gänge, jedes mit allem verbunden, hier stößt du an einen losen Pflasterstein und dort stürzt ein Palazzo ein. Napule eben.“
Ich sehe mir die beiden an. Auch bei ihnen scheint es so etwas wie geheime Kommunikationsröhren zu geben: zwei ins Dienstalter gekommene italienische Polizisten. Auch wenn Totò um runde fünfzehn Jahre jünger ist.
„Und jetzt ...“, sagt Totò.
Das ist der Systematiker in ihm.
„... melde ich zuerst mein Dienstfahrzeug als gestohlen.“
„Wie bitte?“
„Naja. Ich komme aus meinem Büro zurück auf die Straße ... und weg ist es. Jetzt versuche ich, uns ein neues aufzutreiben. In meinem Alter will ich nicht noch zum Fußgänger werden müssen.“
Der hat Sorgen. Immerhin ist mein Seesack weg.
Nimmt sein telefonino, wählt eine Nummer und marschiert vor uns auf und ab, während er spricht.
„Wie geht's dir?“ sagt Totò.
Er kennt mein Problem, was Federvieh betrifft.
„Gut“, sage ich. „Bis auf den Seesack. Man hat ja sonst nichts, im Leben.“
„Du hast ja mich“, sagt Totò.
Und ich nicke, schicksalsergeben.
„Va bene“, sagt Ciro und scheint schon wieder tatendurstig, „also gut: Wir gehen jetzt zuerst einmal zu diesem Kongress. Ganz so als ob nichts wäre. Drei nutzlose Männer an einem nutzlosen Tisch.“
Und im Gehen, auf das Castel dell'Ovo zu, sagt er noch: „Richtig bedacht: Vielleicht war's ja auch der Polizeichef, der möchte, daß ich mit meinen achtundfünfzig Jahren endlich in Pension gehe. Fuori dai coglioni, rompicoglioni, und aus den Augen, aus dem Sinn.“

(...)





13


Pärchen, Geschäftsfreunde, berentete Fachleute für sämtliche Lebensfragen, auf der Piazza Municipio ist einiges los. Kurzer Spaziergang, um sich einen vernünftigen Hunger fürs Abendessen zu holen. Dazwischen, hoheitlich abgezäunt, die blauen Dienstwagen der Stadtregenten, ihrer Stellvertreter und Subcomandantes, ein mittelgroßer Parkplatz mitten im Platz, an dessen Rändern die politischen Tagesgeschäfte nachgeschliffen werden von sonnenbraunen Männern in dunkelblauen Anzügen, vergiß den Beschluß der Stadtverwaltung, du weißt ja, wie es läuft, der Gemeinderat muß das beschließen, weil das eben so vorgesehen ist, aber was heißt das schon, wir regeln das unter Freunden, laß mich mal machen, spätestens morgen rufe ich dich an, verlaß dich drauf, du weißt ja, woran du an mir bist, oder, und haben wir dich jemals enttäuscht?

Wir biegen in die Via Medina ein, plötzlich Hektik rings um uns, eine Hektik, die sich von der Unruhe des Tages deutlich unterscheidet, man kann es nicht festmachen, aber man bemerkt es sofort.
„Che succede?“ sagt Angela zu Ciro, „was passiert hier?“
Der sieht sich um, geht dann weiter vorwärts, Sera, die schneller geworden ist, hinterher.
Totò und ich versuchen, in dem Auflauf, der immer dichter wird, den Anschluß nicht zu verlieren.
Und dann stehen wir da, wie alle anderen auch, und sehen erstaunt, direkt vor dem Eingang des Palazzo, in dem sich, wenn man der Aufschrift trauen kann, das Polizeipräsidium befindet, stehen da und sehen: fünfzehn, zwanzig Männer, durchaus keine zerlumpten Figuren, in einer Reihe aufgefädelt, mit Handschellen aneinander gefesselt.
Und während ich mir noch überlege, was das zu bedeuten hat, schieben mich zwei Breitschultrige von hinten etwas unsanft zur Seite, drängeln sich nach vorne durch, greifen, beinahe synchron, im Gehen noch hinten unter ihre Jackets, ziehen Handschellen aus dem Bund, stellen sich an die Reihe und schließen sich an.
Ich hätte die Pistolenhalfter nicht sehen müssen, um in diesem Augenblick klar zu wissen, mit wem wir es hier zu tun haben.
„Bravo“, sage ich, „Totò, siehst du, so muß es gehen: die Polizei nagelt sich selbst ein. Ist doch schon mal was. Ist doch ein schönes Bild.“
„E come“, sagt Totò, „und ob.“
Aber er ist nicht ganz bei der Sache, sieht sich um, versucht, Ciro zu finden, der ein paar Schritte neben uns steht, aber kaum zu sehen ist, weil zwischen uns ein paar Männer stehen, die gerade dabei sind, Fackeln anzuzünden, was aber immer noch nicht richtig klappt, sie verlöschen immer wieder, der eine nimmt dem anderen das Feuerzeug aus der Hand, laß mich machen, beeil dich, und als kurz Ciros Gesicht auftaucht, sehe ich, wie er mit seinem Nebenmann redet und gleichzeitig seinen fragenden Blick hin zu Angela, die irgendwo vor uns steht.
Die Stimmung ist deutlich gereizt jetzt, es wird Protest geschrien aus der Menge, eine Fackel brennt endlich, und qualmt und rußt, weiter vorne taucht ein Transparent auf, zum Teil noch in die Latten verwickelt, Scandalo! kann ich lesen.
Uniformierte sind bis jetzt keine zu sehen. Dafür habe ich den Verdacht, daß die jungen Männer rechts von uns auch nicht zur Caritas gehören.
„Che paese di merda!“ schreit einer. „Was für ein Scheißland.“
Hab ich auch schon ein paarmal so formuliert, in aller Liebe. War aber noch nie Mitglied irgendeiner ordnungshüterlichen Vereinigung. Insofern beunruhigen mich diese Überschneidungen etwas.
„Bin ich hier im falschen Film?“ sage ich zu Totò, „in Eisen geschlagene Polizisten, die unsere wundervolle Demokratie verhöhnen? Und darf das überhaupt sein? Und wenn es nicht sein darf, wie dann doch?“
„Das fragst du mich?“ sagt Totò.
Dann, inzwischen brennen drei Fackeln und ziehen los, hat Ciro es geschafft, sich zu uns durchzuboxen.
„Sie haben sechs Leute aus dem Mobilen Einsatzkommando in Untersuchungshaft gesteckt“, sagt er, „und zwei Beamte des Polizeipräsidiums. Gegen achtzig wird ermittelt.  Daraufhin haben die feinen Kollegen hier das Präsidium besetzt. Kommt mit.“
Und drängt sich nach vorne, ohne zu sehen, ob wir überhaupt hinterherkommen. Aber Totò kann das, er arbeitet sich mit seinen Ellenbogen vor, gelernt ist gelernt, ich treu im Kielwasser hintennach, bis wir bei Angela stehen. Ich sehe sie fragend an.
„Il G8“, sagt sie, „der G8-Gipfel. Nicht der von Genova, der kam etwas später, folgte auf dem Fuße, hat aber seine eigene Geschichte, sein eigenes Dilemma; wir reden hier vom napoletanischen G8, dem unseren. Straßenkämpfe, Schlägereien, das Übliche. Und jetzt ein kleines, nicht uninteressantes Detail: Wenn es nach den Untersuchungsrichtern geht, haben die Leute vom Einsatzkommando an die hundert illegal in eine Kaserne verschleppt.“
„Verdunkelungsgefahr“, sagt Ciro, „deswegen die Untersuchungshaft. ’A iustizia piace, ma non a purtarla ’ncuollo. Und Gerechtigkeit ist gut und schön, solange sie einen nicht selbst erwischt.“
„Dagegen protestieren deine sogenannten Kollegen jetzt“, sagt Angela, und man kann ihr ansehen, daß sie wütend ist, wenn auch, in all dem Durcheinander, immer noch beachtlich ruhig.
Von hinten kommt jetzt, insistierend, ein Schreien. „Fascisti, fasciti, fascisti.“
Ich drehe mich um und kann gerade noch einen Mann um die vierzig sehen, der die Faust hebt, bevor er von ein paar Jüngeren eingekreist und weggestoßen wird, ein Knäuel rudernder Arme, dumpfe Geräusche, schon ist nichts mehr von ihm zu hören.
Und dann entdecke ich Sera. Sie kommt von der anderen Seite, schmeißt sich von hinten durch die Menge, erstaunlich, wieviel Energie in ihrem schmalen Körper steckt, und dann hat sie es geschafft, ist durchgebrochen, läuft auf die Polizistenreihe zu, bremst kurz vor ihnen ab, stellt sich vor einen hin, schaut ihm ins Gesicht hinauf (ist Angelas Tochter: hat sich den größten ausgesucht, zielstrebig), zeigt dann, messerspitz, mit dem Zeigefinger auf ihn, und sagt: „Aguzzino. Folterknecht.“ Schritt nach rechts, Zeigefinger spitz, „Ti ho visto. Dich hab ich gesehen“, Schritt nach rechts, Zeigefinger, „Coglione, Arschloch“, Schritt nach rechts, Zeigefinger „Aguzzino. Folterknecht.“
Die Polizisten haben sich nicht gerührt. Nicht nur, weil sie mit Handfesseln aneinander hängen. Der leise Ton Seras scheint sie verwirrt zu haben. Bis zwei aus der Menge, besonders unauffällige Zivilisten, sich  auf Sera stürzen, die ihrerseits sofort mit Stiefeln und Fäusten auf sie losgeht und schreit, „fascisti di merda, servi del padrone, Scheißfaschisten, Arschknechte“. Sie haben einige Mühe, sie wehrlos zu bekommen, in diesem Augenblick läuft Angela los und tritt dem ersten gegens Schienbein, Ciro hinterher, packt den einen am Arm und schreit den anderen an, und plötzlich ist es ruhig, die beiden lassen Sera los, die tritt noch einmal nach ihnen, Ciro hält sie zurück, nimmt sie an der Hand und geht los, Angela mit, durch die Menge, die sich auftut vor ihnen, Totò und ich hinterher, es ist immer noch still, und dann haben wir es hinter uns.




14


Wortlos ist man durch die Straßen marschiert, Sera vorneweg, manchmal stampft sie, mitten im Gehen, mit den Füßen auf, Ciro und Angela hinterher, Totò und ich als Nachhut. Fast alle, denen wir begegnen, sind in Gegenrichtung unterwegs; dieser seltsame Aufstand der Polizisten hat sich,  scheint es, windeseilig herumgesprochen in den unterirdischen Kanälen der Stadt. Und jetzt will man mit eigenen Augen sehen.
Auf der Piazza Matteotti, unter dem Postgebäude aus der Faschistenzeit, das sich breit in den Platz lehnt, dreht sich Sera ansatzlos um.

„Was erlauben die sich?“ sagt sie, „was bilden sich diese verdammten faschistischen Scheißer ein? Erst verprügeln sie die Leute auf der Straße, du kannst dich an mein blaues Auge erinnern, Angela, dann schicken sie ihre Einsatzkommandos in die Notaufnahmen der Krankenhäuser und nehmen jeden mit, einfach jeden, der eben angekommen ist und sich verarzten lassen will und nicht gerade achtzig ist oder im Doppelreiher herumsitzt; Vera, meine Freundin, hat eine Cousine, die aus Sizilien zu Besuch in der Stadt war, deswegen sind sie auch nicht zur Demonstration, Familientag, beim Spaziergang auf Capodimonte, sie spielen mit dem Hund, knickt ihr Knöchel um, Verstauchung, Schwellung, Krankenhaus, die beiden sind noch nicht richtig angekommen, da werden sie auch schon vom Einsatzkommando verschleppt, in einen Transporter geladen, ab in eine Kaserne, wie Dutzende andere auch, die telefonini nimmt man ihnen ab, Rechtsanwalt gibt es nicht, dafür hier ein Schlag und da ein Stoß, Schreierei und Drohungen, wir machen euch fertig, Scheißkommunisten, Drogenfresser, und dann, immer wieder, einzeln in einen dieser gekachelten Räume, und außer Schreien ist nichts zu hören, und Hosen runter und Leibesvisitation, für die Frauen haben sie die Faschoweiber, da sind sie genau, was für ein Drecksfortschritt, ein paar müssen sich nackt vor der Kloschüssel niederknien, Tritte in die Rippen, und willst du ein ganz klares Beispiel, könnte ja wirklich sein, daß diese Leute alles gefährliche Terroristen sind, inclusive Vera und ihrer Cousine, nehmen wir einen ganz braven, denn zufällig, ohne es zu ahnen, haben diese Scheißbullen auch einen jungen oberbraven Rechtsanwalt einkassiert, einen aus guter Familie auch noch, als sie seinen Ausweis, sehen bemerken sie es, sie rufen ihn auf, an einen Schreibtisch, er muß sich davor niederknien, bekommt ein paar Ohrfeigen ab, Scheißrechtsanwalt, l’avvocato d’o cazzo, er darf wieder gehen, dreimal geht das so, immer wieder, dann ab ins Klo, ausziehen, niederknien, anziehen, draußen muß er kniend warten, wie es weitergeht, noch einmal ab zur Leibesvisite, Signor l’avvocato d’o cazzo, so geht das reihum, macht vor kaum einem Halt, und stundenlang geht das so und es scheint nicht aufzuhören. Und als es dann endlich vorbei ist: alles vergessen und vorbei, eine Handvoll Anzeigen von unseren Leuten, mehr haben sich nicht getraut, keiner von denen, die in die Kaserne entführt worden sind, ist jemals angeklagt worden, weil ihnen nichts vorzuwerfen war, und die Staatsanwälte ermitteln, und wir denken schon, da passiert wieder nichts, da wird wieder vertuscht, wie immer in diesem Land, und dann? Dann setzen sie eine Handvoll Bullen in Untersuchungshaft, und was machen die anderen Scheißbullen, ha? Nix anderes zu tun, als sich sofort und umgehend auf die Straße zu stellen in ihren gebügelten Hemden und sich aneinanderzuketten, arme, mißhandelte Schweine, die sie sind, Protestprotest, Skandalskandal, sowas darf man mit uns nicht machen, sowas nicht, wo sind wir denn? Ja wo sind wir denn, frag ich dich, Ciro?“

Inzwischen hat sich eine Handvoll Leute um uns herum gesammelt, Sera hatte noch nicht die Zeit, Atem zu holen, als der erste schon loslegen will.
„Senta, Signorina, nu saccio ...“
Ciro nimmt Sera unter seinen Arm und winkt Angela.
„Gehen wir“, sagt er, “nicht noch ein Volksauflauf.“
„Storta va, deritta vene; sempe storta nun pô ghì“, ruft uns der Mann des Volkes hinterher, „wenn’s schief läuft, kommt’s gerad zurück; immer schief laufen kann es nicht.“
„Siehst du, Ciro, das hast du nun davon“, sagt Angela, „du und deine napoletanischen Sprichwörter. Jetzt schreien sie sie dir schon auf der Straße hinterher.“
„Wieso hast du nie davon erzählt?“ sagt Ciro zu Sera.
Sie sieht ihn einen Augenblick lang wortlos an, entgeistert fast, dann nimmt sie ihre beiden Fäuste und trommelt auf Ciros Brustkorb ein. Der läßt sie machen bis irgendwann wieder Ruhe ist.
„Scheißbulle“, sagt Sera, leicht erschöpft. „Du bist ein Scheißbulle. Gib mir dein telefonino.“
Und während Sera etwas seitab ein Telefonat führt, dreht Ciro sich zu uns um.
„Schwieriges Alter“, sagt er.
„Du“, sagt Angela, „du bist im schwierigen Alter, caro mio.“
„Ich habe eine Verabredung“, sagt Sera, hält Ciro das Telefon hin und verschwindet.





Glossar
(...)



(Zu S. 126 der Haymon-, zu S. 180 der Diogenes-Ausgabe)

Und Don Rosario, stolz auf sein Geschäft und sein Heft und seine pizze und seine ricotta und seine Frau: Das mußt du dir einmal vorstellen, sagt Tschenett, und zwar von ganzem Herzen. Da stehst du mitten in Berlin, die verdammten Fallwinde haben dich hier anlanden lassen und du hast eine kleine Bleibe auf Zeit und es ist Sylvestervormittag, du weitab der Heimat und ohne Geschäft und Heft und pizze di Don Rosario und ricotta, und nichts, was jetzt mehr Glück ins Haus bringen würde in dieser letzten Nacht des Jahres, das bei Gott und allen ihm assoziierten teuflischen Helfern beileibe kein besonders gutes war, nichts, was mehr Glück ins Haus bringen und Unglück abwehren würde als cannoli; und weil du ohne deine cannoli-Eisen nicht verreist und die drei, auf einen Seesack gerechnet, nichts wiegen, hast du dir deine cannoli-Rollen längst in Öl frittiert und es fehlen nur noch, zum vollständigen Glück, das dir Glück für's Neue Jahr bringen soll, es fehlen nur noch: ricotta und kandierte Früchte. Was die kandierten Früchte betrifft, hast du hier im Märkischen Sand die Hoffnung längst schon begraben, mehr als üble Fabriksware ist und war nicht aufzutreiben, selbst in die selbsternannten Tempel der Wohlmeinenden und Modenkocher hast du dich gewagt, einen anaphylaktischen Schock nach dem anderen überlebt, um dann doch wieder nur als kandierte Früchte deklariertes Plastik zu finden (undefinierbar in Quadrate gehäckselt: wenn sie einem die Arbeit abnehmen, ist das nichts als der Ausdruck ihres schlechten Gewissens; sie wissen nämlich, was sie tun; nichts übler als passiert tiefgefrorener Spinat, mehr als Gras und Geschmacksverstärker ist da nicht drin. Aber immer wieder heißgeliebtes Hausfrauenmitbringsel. Suizidale Tendenzen?) und nichts als das, und dieses selbe Plastik kannst du beim Aldi für ein Bruchteil des Preises kaufen, und, weit wichtiger, ohne in ihre Parfumschwaden zu laufen und ihre hochpreisig slowfoodgemästete Ignoranz. Kandierte Früchte also hast du schon in der Hand und es fehlt dir, zum Glück, nur noch die ricotta, ein viertel Kilo würde reichen, aber du weißt: das wird haarig. Und um vierzehn Uhr ist Ladenschluß bis weit ins Neue Jahr hinein, und ohne ricotta keine cannoli, und wie will ein vernünftiger Mensch so ins Jahr gehen? Also tust du alles dafür und hetzt durch Kaufhalle und Kaufhaus alle die alten Adressen ab, aber wie es der Teufel will und die ihm beigestellten göttlichen Helfeshelfer, nirgendwo ricotta zu finden, alles von diabolischen Kräften ausverkauft, also vom Parkdeck des Kaufhauses wieder abgefahren in dreiunddreißig Halbrunden und, im ewigen Kreisen noch, nachgedacht wo letzte Chance zum Himmelreich: ein deutscher Italiener auf der Pieck-Straße, die sie hier längst schon Tor-Straße nennen, und dann die Ausfahrt und die Einfahrt in die Straße und dabei einen Stoßfänger stoßfrei gestreift und die plastene Kappe abgefahren: ausgestiegen, um sich gelugt und auf die Uhr, zehn Minuten noch bis Geschäftschluß, elf davon Fahrzeit, kein Geschädigter in Sicht und die abzusehenden Jammerschreie im Ohr, nieendenwollende Klageweiberrufe einer automobilen Nation, die sonst nichts hat, an das sie glauben kann, vor dem sie ernst wird, und der Blick auf's eigene, dann doch malträtierte Blech, und also: einsteigen, weiter, ricotta, nur zu auf der Jagd nach dem Glück.
(Was man, in deutschen Landen, Fahrerflucht nennt; ein in diesem Kontext dem Italiener vollkommen unverständlicher juridischer Mißgriff und gewollter Akt der Züchtigung, von dem der Delinquent, bis es soweit ist, nicht ahnt, wie hart er bestraft wird: am liebsten mit dem Leben, geht aber nicht mehr so recht, also kurzerhand mit langjährigen Freiheitsstrafen. (Jeder multiple Todschläger kommt besser weg; schon gar wenn er zwei Tage lang an einem Asylantenhaus zündelt. Dann reicht es nach zehnjährigem Prozeß gerade mal eben zu ein paar Monaten auf Bewährung.) Aber Fahrerflucht bei Kratzer am Blech! Also hat man dem Polizeipräsidenten zu Berlin eine Sachverhaltsdarlegung zu verfassen, woraufhin eine Amtsanwaltschaft entscheidet: am besten, man liefert das Rezept gleich mit, und hofft, da die Amtsanwaltschaft in Form einer Dame sich äußert, auf kulinarisches Interesse und allerhöchste Gnade.)
Und das Jahr, wohlwollend, endete mit cannoli und begann mit cannoli und wurde ein gutes Jahr.






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